Eine unberührte Welt
schauen ihn komisch an, aber das ist er gewohnt. Das macht ihm schon gar nichts mehr. Nicht einmal die hübsche Frau ist heute da, die sonst immer da ist. Er steigt immer in den gleichen Wagen wie sie, sodass er sie während der Fahrt anschauen kann. Er weiß auch nicht, wieso eigentlich.
Heute bekommt er einen Sitzplatz, und ihm gegenüber sitzt ein Mann, der Zeitung liest. Hermann erkennt die Zeitung; die gleiche Zeitung liest Ludwig auch. Sie hat riesige Wörter überall, die rot unterstrichen sind, und meistens Bilder von nackten Frauen drin, die sich Hermann manchmal heimlich anschaut, und dann bekommt er immer so ein eigenartiges Gefühl.
Der Mann liest die Rückseite. Hermann versucht, die Worte auf der Vorderseite zu lesen. »Wissenschaftler« steht da. Er weiß, was ein Wissenschaftler ist: ein furchtbar kluger Mensch, der in einem Labor arbeitet und alle möglichen Sachen erforscht. Das hat er im Fernsehen oft gesehen. »Wissenschaftler setzt Todes-Gen frei.« Das versteht er nicht. Er versteht meistens nicht, was gemeint ist, wenn er etwas in der Zeitung liest. Er überlegt, was wohl ein Todes-Gen ist.
Am Bahnhof steigt die hübsche Frau immer aus, aber heute nicht. Er muss noch vier Stationen weiterfahren. Das kann er zählen, und außerdem sieht er schon von weitem das kleine Zeitschriftenhäuschen mit dem roten Dach, das an der Haltestelle steht, an der er aussteigen muss.
Auf Arbeit ist es wie immer. Er sagt »Guten Tag« zur alten Frau Steidlitz, die an einem Tisch neben der Tür sitzt und aufschreibt, wer alles kommt und um wie viel Uhr, zieht seinen Anorak aus und hängt ihn an seinen Haken und geht dann an seinen Platz. Dort stehen schon ein paar graue Plastikkästen, wie jeden Morgen. In einem Kasten sind Briefumschläge, in einem anderen gefaltete Briefe, in einem dritten bunte kleine Prospekte.
Er muss immer einen Brief und einen Prospekt nehmen und in einen Umschlag stecken, und zwar so, dass die Adresse in dem durchsichtigen Fenster vorne zu sehen ist. Das kann er wirklich gut. Ludwig lobt ihn immer und sagt, dass er das prima macht. Ludwig ist groß und stark und hat einen wilden Bart, und Hermann stellt sich manchmal vor, dass sein Papa auch so ausgesehen hat. Aber er weiß es nicht, weil Papa fortgegangen ist, als er noch klein war.
Als sie ihr Vesperbrot essen, fragt er Iris, die am Platz neben ihm sitzt und immer Glückspfennige auf Briefe klebt, wegen den Blumen. Iris ist dick und hat schwarze Stoppelhaare und schaut ihn mit ihren kurzsichtigen Augen durch ihre Brille hindurch an, und das sieht jedes Mal aus, als müsse sie überlegen, wer er ist.
»Du musst Pflanzendünger gießen«, sagt sie. »Der ist in einer großen grünen Flasche. Nicht bloß Wasser.«
Ludwig sitzt in seinem Büro und hört Radio. Das macht er sonst nie; sonst sitzt er immer bei ihnen und macht Späßchen mit ihnen.
»Aber meine Mama hat nur gesagt, dass ich Wasser gießen muss.«
»Nein. Wenn du Wasser gießt, dann haben sie was zu trinken, aber nichts zu essen.«
Das leuchtet ihm ein. Aber warum hat ihm Mama das nicht gesagt? Vielleicht hat sie es gesagt, und er hat es vergessen. Manchmal vergisst er Sachen, weil er eben dumm ist.
Ludwig kommt aus seinem Büro und geht zu Frau Steidlitz hinüber, und Hermann hört, wie er sagt: »Das Virus ist jetzt auch in Südamerika aufgetaucht und in Australien. Wirklich überall. Und der Wissenschaftler ist immer noch verschwunden.«
»Unglaublich«, sagt Frau Steidlitz und wackelt mit dem Kopf.
Hermann versteht nicht, wovon die beiden reden, aber er gesellt sich dazu und sagt: »Wenn ich klug wäre, dann wäre ich auch gern ein Wissenschaftler.«
Frau Steidlitz drückt ihm ein bisschen den Arm – das mag er – und sagt: »Ja, Hermann, du wärst sicher ein anständiger Wissenschaftler. Nicht so einer.«
Hermann versteht nicht, was sie damit meint, aber er sagt nichts, sondern freut sich bloß, dass sie ihn ein bisschen drückt. Frau Steidlitz kann ihn gut leiden, und er sie auch.
Wenn er abends heimkommt, ist er immer ziemlich müde. Er setzt sich dann als Erstes auf die Couch und schaltet den Fernseher ein für die Kinderstunde. Er weiß, dass er eigentlich zu groß ist für Kinderstunde, aber sie gefällt ihm. Und später am Abend kommen bloß noch Sachen, die er nicht versteht oder die ihm Angst machen.
Aber heute kommt gar keine Kinderstunde, nur Nachrichten.
»… den dringenden Appell, den Lebensmittelhandel aufrechtzuerhalten und keine sinnlosen
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