Eine unberührte Welt
anderen Kirchen ein Wörtchen mitreden wollen, nehme ich an. Ein Ende der Entwicklung ist jedenfalls noch nicht in Sicht.
Dabei, fiel mir neulich ein, gibt es für dieses ganze absurde Dilemma im Grunde eine höchst einfache Lösung. Um sie allerdings zu beschreiben, müsste ich das Wort verwenden, das Dr. Raider erfunden hat, und das kann ich mir, wie gesagt, nicht leisten. Vielleicht, sobald der Patentantrag auf meine Idee angenommen ist. Mal sehen. Verfolgen Sie einfach diese Kolumne.
© 1999 Andreas Eschbach
Mutters Blumen
Die folgende Story war ein Experiment. Ich wollte eine ungeheure globale Katastrophe aus einer extrem eingeschränkten individuellen Sicht schildern – aus der Sicht eines Menschen, der gar nicht versteht, was eigentlich passiert. Erst der Leser soll begreifen, was geschehen ist – und geschehen wird …
Die Blumen sehen alle krank aus. Schlapp und faltig hängen die Blütenblätter herum und haben braune Stellen an den Rändern. Die grünen Blätter sind bleich wie Käse. Er stellt erschrocken die Gießkanne hin, rennt zum Kalender und schaut, aber heute ist Mittwoch, erst Mittwoch! Er rennt zurück zur Fensterbank und könnte fast heulen. Er hat doch alles richtig gemacht, genau so, wie Mama es auf die kleinen Zettel geschrieben hat an jedem Topf. Er ist so stolz, dass er lesen kann, was da steht: »Montag, Mittwoch, Freitag« steht an dem Topf, in dem die Blume mit den großen violetten Blüten ist, und »jeden Tag« an dem großen Topf mit der Blume, die überhaupt keine Blüten hat, nur viele lange grüne Blätter und Stengel, und »nicht gießen« steht an den Töpfen mit den stacheligen Blumen.
Au weia, au weia! Er schüttelt wild die Hände, rennt jammernd weg von den Blumen und gleich wieder hin. Heulen könnte er, wirklich heulen. Früher hätte er wirklich geheult, aber er ist jetzt groß, ein erwachsener Mann, der sein Geld verdient. Und der auf Arbeit muss. Er schaut auf die Uhr. Wenn der große Zeiger auf den Strich vor dem Strich ganz oben ist, dann ist es Zeit, zur Straßenbahnhaltestelle zu gehen.
»Hermann, pass auf meine Blumen auf«, hat Mama gesagt. »Das kannst du doch, oder?« Und er hat großspurig »Ja, klar« gesagt – au, au, au. Jetzt heult er wirklich fast ein kleines bisschen. Er hat sich ganz arg angestrengt, so klug wie möglich zu werden. Er kann die Uhr ablesen. Er kann alleine auf Arbeit fahren. Er kann sogar ein bisschen lesen. Mama hat sich so auf die Reise gefreut, die Reise mit dem großen Schiff nach Afrika. Sie hat versprochen, ihm auch etwas mitzubringen. Er weiß nicht viel über Afrika, aber gehört hat er schon davon. Das ist ein Land, weit weg, in dem Menschen mit schwarzer Haut leben. Solche Menschen hat er hier in der Stadt auch schon gesehen, und er wäre gern mitgefahren, um zu sehen, wie es da ist in Afrika. Aber er muss ja auf Arbeit, und deswegen ist Mama allein gefahren. Und überhaupt ist er alt genug, eine Woche auf sich selber aufzupassen, hat Mama gesagt.
Aber die Blumen! Er hat jeden Morgen dran gedacht. Und nicht zu viel und nicht zu wenig gegossen, sondern genau wie Mama es ihm gezeigt hat. Er schaut wieder auf die Uhr. Der große Zeiger ist schon auf dem zweiten Strich vor ganz oben; er muss sich anziehen.
Mama wird ganz schön enttäuscht sein von ihm. Das mag er gar nicht, wenn sie enttäuscht ist, weil sie dann ein totes Lächeln bekommt und das wirkliche Lächeln drunter wegstirbt. Dann seufzt sie leise und sagt so Sachen wie »Oh, Hermann …« und geht ans Fenster und schaut hinaus und sieht dabei irgendwie sehnsüchtig aus. So, als wünscht sie sich in dem Moment, dass es ihn gar nicht gibt.
Aber es hilft nichts, er muss los. Er packt seine Aktentasche unter den Arm und vergewissert sich, ehe er die Tür zuzieht, dass er den Hausschlüssel um den Hals hängen hat. In der Aktentasche hat er nur sein Vesper, das er sich selber gemacht hat, aber es gefällt ihm, die Tasche unter dem Arm zu tragen, weil er dann so richtig das Gefühl hat, auf Arbeit zu gehen und erwachsen zu sein wie die anderen Leute in der Straßenbahn, die auch Aktentaschen tragen und auch auf Arbeit gehen. Bloß dass die klüger sind als er und schwierigere Sachen machen, mit Computern vielleicht. Wie Ludwig, der Werkstattleiter. Sein Chef. Der hat einen Computer in seinem Büro, und vor dem sitzt er viel, schaut auf den Bildschirm und macht irgendwas.
Heute ist er irgendwie traurig, als er an der Haltestelle steht mit den anderen. Manche
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