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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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kleine weiße Zelt, in dem sie die letzten Tage verbracht hatte, so klein und verloren aus, dass einem fast die Tränen kamen. In diesem winzigen Refugium hatte sie geschlafen, gegessen, getrunken, mit der nahenden HOMELAND kommuniziert und wider alle Vernunft gehofft.
    In diesem winzigen Refugium würde sie sterben.
    Ein harter Ring aus Federstahl schien sich um ihre Brust zu schließen, während sie mit wütender Energie die übrigen Trümmerstücke ablief, untersuchte, nichts fand. Nein, man konnte auch Callisto nicht die Schuld geben. Die Forschungsstation, die den Jupitermond Callisto in einer niedrigen, überaus stabilen Bahn umkreiste und unentwegt wertvolle Daten über den Jupiter sammelte, war bis zu ihrer und Jims Ankunft zwei Jahre lang von fünf Männern und einer Frau bewohnt gewesen. Fünf gesunden Männern und einer gesunden Frau. Und als Jim und sie mit ihrem Frachter angedockt hatten, stellte sich heraus, dass es auf der Station noch wilder zuging, als selbst die wildesten Gerüchte in den Raumfahrerkneipen behauptet hatten. Kein Wunder, dass Jim ein wenig ausgerastet war.
    Aber einfach allein zu starten war auch eine Form von Ausrasten. Und die schlimmere.
    Sie wusste, dass sich Jim Vorwürfe machte. In den Tagen nach dem Absturz hatten sie viel miteinander gesprochen. Da war es noch um Rettung gegangen, um Kopf hoch und nicht aufgeben. Jim hatte die Verbindung zur HOMELAND hergestellt, die unterwegs war, um eine Forschergruppe auf Io abzusetzen, aber sofort ihren Kurs angepasst hatte, um einen Orbit um Europa zu erwischen. Ehrensache unter Raumfahrern.
    Jetzt war Callisto auf der anderen Seite des Jupiter, unerreichbar für Funksignale.
    Joan spürte es wie einen Schlag, als es sie jäh anfiel: Sie würde nicht mehr mit Jim reden können. Callisto würde aus dem Funkschatten herauskommen, und sie würde tot sein. Sie hatte versäumt, Jim zu sagen, dass es nicht seine Schuld war, und nun würde sie es ihm nicht mehr sagen können. Auch nicht, dass sie ihn immer gemocht hatte, obwohl er mit seinen Annäherungsversuchen unterwegs nicht viel Glück gehabt hatte. Dass sie ihn gemocht hatte. Das hatte sie ihm nie gesagt. Immer nur dumme Witze hatten sie gerissen, aber einander nie gesagt, dass sie sich gut leiden konnten.
    Sie fühlte sich elend, als sie das Zelt wieder erreichte. Sie kroch durch die Luftschleuse hinein, nahm dann nur den Helm ab und blieb in der Dunkelheit liegen, ohne den Raumanzug auszuziehen. Wozu auch. Es gab nichts mehr zu tun. Nichts war mehr wichtig.
    Nach einer Weile setzte sie sich auf. Es gab sehr wohl noch etwas zu tun. Es gab sehr wohl noch Dinge, die wichtig waren. Sie holte das Aufzeichnungsgerät aus der Tasche, schaltete es ein und begann zu sprechen. »Pilotin Joan Ridgewater, am siebten Juli 2102, Jupitermond Europa. Die nachfolgende verschlüsselte Aufzeichnung ist für Pilot Jim Meyer. Ich bitte um persönliche Zustellung.«
    Sie zog die klobigen Handschuhe aus und tippte Jims Briefcode ein. Die Aufzeichnung würde nun in einer Weise verschlüsselt werden, dass nur Jim mit seinem persönlichen Code, den niemand außer ihm kannte, sie wieder anhören konnte. »Jim, hier ist Joan. Wie es aussieht, werden wir uns nicht mehr sprechen, deshalb hier noch ein paar Dinge, die ich dir sagen wollte. Erstens – es ist nicht deine Schuld. Ich hätte einfach nicht ohne dich starten dürfen. Ich hätte die blöde Sonde vergessen sollen, okay? Wenn ihre Funkeinheit einen Monat früher oder später ausgefallen wäre, hätte man sie schließlich auch abschreiben müssen. Ich weiß, dass du dir Vorwürfe machst, aber …«
    Sie hielt inne, spürte mit gepresster Stopptaste dem Aufwallen ihrer Gefühle nach. »Jim, weißt du – auch wenn das mit dem Sex nicht so unser Ding war, bin ich doch gern mit dir zusammen geflogen. Wirklich. Bitte behalt mich nicht als zickiges Ding in Erinnerung, sondern als Freundin. Versprich mir das. Und denk ab und zu an mich, wenn du deinen grünen Tee kochst.«
    Sie dachte noch eine Weile nach, aber das war es. Das war es, was sie noch zu sagen gehabt hatte. Nicht viel, wenn man es recht bedachte. Sie beendete die Codierung, schaltete das Gerät aber nicht ab.
    Es war immer noch kalt. Sie würde den Raumanzug wohl anbehalten müssen. Sie hätte etwas gegeben für eine warme Dusche und frische Wäsche, aber das, erkannte sie mit einer Klarheit, die sich in ihr auftat wie eine tiefe Schlucht, waren Dinge, die bereits unwiderruflich der Vergangenheit

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