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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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einmal mit mir sprechen?«
    Sie zögerte. Zögerte, dieses Gespräch loszulassen, diesen letzten dünnen Faden in die Welt der Lebenden. »Nein. Ich glaube, ich werde nicht mehr anrufen.«
    »Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, Joan.«
    »Danke. Leben Sie wohl, Doktor.«
    »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Joan.«
    »Vielen Dank.«
    Die Verbindung erlosch mit einem knackenden Geräusch, und dann war sie allein. Wirklich allein, dachte sie. Nur noch ich und das Universum. So war das also.
    Sie überlegte, was sie nun tun wollte. Im Zelt zu bleiben und abzuwarten kam ihr irgendwie unwürdig vor. Nein, sie würde hinausgehen. Im Angesicht der Sterne zu sterben war das Mindeste, was sie sich als Raumfahrerin schuldig war.
    Eine Weile überlegte sie daran herum, wie sie den Sauerstoff aus dem Zeltinneren in die Tanks des Raumanzugs bekommen konnte, fummelte an der Schleusenpumpe herum und verglich Anschlüsse, dann ließ sie es bleiben. Unnützer Aufwand. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.
    Sie zog die Handschuhe an, zum letzten Mal, setzte den Helm auf, zum letzten Mal, arretierte die Befestigung. Zum letzten Mal. Jeder Handgriff ein Abschied. Jeder Blick ein Loslassen. In allem, was sie tat, war eine kristallene Klarheit.
    Als sie aus der Schleuse hinauskroch, erschrak sie, wie dunkel es war. Der Jupitermond war weitergewandert auf seiner Bahn und durchquerte nun den Schatten des Gasriesen, der dunkel und düster am Firmament prangte wie eine glattpolierte Marmorkugel. Jetzt, da Jupiter nicht mehr alles überstrahlte, sah man die Sterne, Tausende und Abertausende davon, kostbares Geschmeide auf dem schwarzen Samt der Unendlichkeit. Joan stand da und schaute, schaute und wünschte, sich einfach auflösen zu können in der Bodenlosigkeit um sie herum. Warum konnte man das nicht? Was hielt einen in dieser körperlichen Hülle?
    So einfach war es wohl nicht. Sie wurde müde vom Stehen und suchte sich einen Platz, an dem sie sitzen und sich anlehnen konnte. Schließlich beschloss sie, sich vor die Rettungskapsel zu setzen, den Blick auf Jupiter gerichtet. So saß sie, dachte nach, schaute auf die Sterne, die ihr Schicksal gewesen waren, und hörte ihrem Atem zu, der rasch und tief ging, obwohl sie nur ruhig dasaß. Die Luft schien schon schlechter zu werden. Doktor Wangs Ratschlag fiel ihr ein, und sie verabreichte sich alle Beruhigungstabletten, die in der Ausrüstung enthalten waren.
    Dann stöpselte sie das Aufzeichnungsgerät an, verzichtete auf allen Verschlüsselungsfirlefanz, schaltete einfach nur ein. »Das Folgende ist nochmal für Frederic. Frederic – ich weiß nicht, wieso ich gerade jetzt so viel an dich denken muss. Ich schätze, weil du eben doch der Mann meines Lebens warst. Dabei waren wir nur fünf Jahre zusammen. Insgesamt, meine ich. Du bist der Vater meiner Tochter. Das verbindet. Obwohl, nein. Es ist andersherum. Ich bin die Mutter deiner Tochter. Cheryl ist so sehr deine Tochter, dass es manchmal weh tat, sie zu sehen.«
    Die Pausentaste war beinahe zu schmal, um sie mit dem behandschuhten Finger zu bedienen. Sie keuchte. Ließ die Aufnahme weiterlaufen. Keine Zeit, sich die Worte sorgfältig zu überlegen. »Weißt du, ich überlege jetzt natürlich, ob es richtig war, was ich getan habe. Wie ich entschieden habe. Der Weg, den ich gewählt habe. Du hast damals prophezeit, dass ich einen einsamen Tod im Weltraum sterben würde, weißt du noch? Du hast wirklich alles versucht, um mich davon abzubringen. Du hattest Angst um mich, weil du mich liebtest. Du hast sogar gesagt, es wäre dir lieber, ich verließe dich um eines anderen Mannes willen, als um den Raum zu befahren. Ich erinnere mich noch gut, nicht wahr? Und was soll ich sagen, Frederic – du hast recht gehabt.«
    Sie fühlte plötzlich ein Zittern in sich, in ihrer Stimme. Die spiegelglatte Ruhe, all die kristallene Klarheit schien zu zerbrechen, in Millionen Splitter zu zerplatzen, und den Weg freizugeben für eine Woge aus panischer Angst, die darunter eingesperrt gewesen war. »Frederic …! Weißt du … wenn du mich vor einem Jahr gefragt hättest, vor einem Monat, selbst vor drei Tagen noch … – was ich sagen würde in einem Moment wie diesem, ich hätte gesagt: Ja, es war richtig. Ich hätte gesagt, dass man seinen Weg gehen muss. Dass man sich treu bleiben muss. Dass es Menschen gibt wie dich, die in der Zivilisation leben, die die Kultur bewahren und die Ordnung der Dinge, und Menschen wie mich, die es hinausdrängt an den

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