Eine unberührte Welt
angehörten.
Da war noch mehr, was abgeschlossen werden musste. Sie drückte wieder den Aufnahmeknopf. »Die nachfolgende verschlüsselte Aufnahme ist für Frederic Ridgewater, Sao Paulo, Erde. Ich bitte um persönliche Zustellung.«
Frederics Briefcode wäre ihr beinahe nicht mehr eingefallen. Wie lange hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen? Ewigkeiten. Die große Liebe. Das große Drama ihres Lebens. »Frederic, hier ist Joan. Ich nehme an, wenn du diese Nachricht erhältst, wirst du es schon wissen. Während ich diesen Brief spreche, sitze ich in einem Rettungszelt auf Europa, dem zweiten Jupitermond – oder dem sechsten, je nachdem, welche Brocken man noch als Monde gelten lässt –, und in wenigen Stunden wird mein Sauerstoff zu Ende gehen. Genauer gesagt, der Energievorrat für mein Lebenserhaltungssystem, aber das ist nur ein technischer Unterschied. Ich …« Sie seufzte. »Dies wird mein letzter Brief an dich, und ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Soll ich sagen, pass bitte gut auf Cheryl auf? Das tust du doch ohnehin schon, all die Jahre. Besser als ich es gekonnt hätte. Sie ist ein prächtiges Mädchen geworden, wirklich … Ich weiß nicht mal, ob du inzwischen endlich wieder geheiratet hast. Das solltest du wirklich tun. Schau, wenn du das hörst, dann hat uns der Tod geschieden. Falls dir der amtliche Trennungsvertrag nicht genügt. Und Cheryl ist jetzt …«
Ihr Daumen schimmerte elfenbeinfarben, so fest presste sie die Stopptaste, um einen entsetzten Aufschrei zu unterdrücken. Wie alt war Cheryl? Sie wusste nicht mehr, wie alt ihre Tochter war! Hastig rechnete sie nach. Geboren im Mai 2084, dann war sie jetzt … mein Gott, achtzehn. Und sie hatte ihren Geburtstag vergessen.
Ihre Wangen brannten beinahe. »Frederic, ich merke gerade mal wieder, was für eine lausige Mutter ich bin. Es ist ein Wunder, dass Cheryl mich nicht hasst, und bestimmt verdankt sie das dir. Du bist ein wunderbarer Mann, Frederic, und es tut mir leid, dass es so war, wie es eben war. Es ist nicht so, dass ich dich nicht geliebt hätte. Das habe ich. Aber unsere Vorstellungen vom Leben waren einfach zu verschieden, weißt du? Geliebt habe ich dich. Und ich weiß, dass du mich geliebt hast und immer noch liebst. Ich wollte immer, dass du mich trotzdem loslassen kannst, um selber glücklich zu werden, und … na ja. Jetzt musst du es.«
Sie schaltete ab. War das schon die schlechter werdende Luft, die sie so erschöpfte? Oder war es etwas anderes?
Vielleicht musste sie sich beeilen. Sie sprach eine Botschaft für ihre Tochter auf den Speicher. Ihre Tochter, die noch überlegte, ob sie Tänzerin werden oder Physik studieren sollte. Ihre Tochter, die sie das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen hatte. Joan sprach lange, zögerte oft, merkte, was sie alles nicht wusste über dieses Menschenkind, das sie geboren hatte, um es vier Jahre später zu verlassen und die Sterne zu bereisen. Was konnte sie ihr denn sagen? Außer dem, was sie ihr jedes Mal gesagt hatte, wenn sie sich gesehen hatten, und in fast jedem Brief: dass sie sie liebte und dass es ihr leidtat. Joan weinte, als sie die Aufzeichnung beendete, und fühlte sich allein wie noch nie zuvor im Leben. Was sie mit Cheryl versäumt hatte, war nicht mehr aufzuholen, nicht mit allen Briefen der Welt.
War sonst noch jemand? Sie hatte eine ganze Menge Herzen zerschlissen in all den Jahren, aber das waren Beziehungen gewesen, wie Beziehungen zwischen Raumfahrern eben sind. Jemand hatte einmal gesagt, wenn sich zwei Raumfahrer ineinander verlieben, dann sind sie entweder Kometen oder Supernovae. Kometen, das hieß, auf verschiedenen Schiffen zu fliegen, auf unterschiedlich langen Routen, immer Anträge schreiben und mit den Flugplanern debattieren, um sich wenigstens einmal im Jahr zu sehen. Was zu wenig war, weswegen die meisten mehrere solcher Beziehungen gleichzeitig pflegten. Und eine Supernova war es, wenn man verliebt war und daraufhin gemeinsam flog. Was in der Regel hieß, dass man am Anfang jede Menge Sex und am Ende jede Menge Streit hatte und sich nach dem einen Flug für alle Zeiten trennte.
Bloß so etwas wie ein Familienleben gab es für Weltraumfahrer nicht. Abgesehen von den Weltraumhabitaten in der Erdumlaufbahn lebten keine Kinder im Weltall. Die meisten Raumfahrer hatten ihr Erbgut in Tiefkühlbanken hinterlegt und sich sterilisieren lassen, weil die Strahlung im Raum ihre Keimzellen ohnehin zerstörte.
Wenn sie hätte gerecht sein wollen,
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