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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Rand der Zivilisation, Menschen, die die Grenze zum Unbekannten suchen, um sie weiter hinauszuschieben, ein Stück wenigstens. Alle die Sprüche, genau wie damals. Ich war mir einmal so sicher, zu wissen, was richtig ist – aber jetzt weiß ich überhaupt nichts mehr. Wirklich, ich weiß es nicht. War es richtig, der Stimme meines Herzens zu folgen? Wäre es nicht besser gewesen, bei euch zu bleiben? Ich weiß es nicht, Frederic. Ich weiß es wirklich nicht.«
    Ihr Atem flog. Erinnerungen tauchten auf, vergessen geglaubte Bilder. Ihr gemeinsames Haus in Sao Paulo, das Haus eines wohlhabenden Verwaltungsbeamten. Cheryls Geburt. Der erste Tag an der Raumakademie in Kapstadt. Warum war sie sich nicht mehr sicher? Hatte sie ihr Leben auf Sand gebaut, der jetzt ausrann? Hatte sie ihr Leben weggeworfen, verspielt, vertan für einen sinnlosen Traum? Eigenartige Geräusche hallten blechern in ihrem Helm wider, und erst nach einer Weile begriff sie, dass sie es war, dass sie schluchzte.
    Sie blinzelte hilflos. In einem Raumanzug gab es keine Möglichkeit, sich die Augen zu wischen. »Ich weiß es nicht. Ich hoffe, es war einigermaßen in Ordnung, wie es war. Schließlich kann ich nichts mehr daran ändern.« Ihr Atem beruhigte sich wieder. Es schien kälter zu werden. Vielleicht war aller Sand jetzt ausgelaufen, und sie saß auf Grund. Auf festem Grund. »Vielleicht ist es letzten Endes auch nicht so wichtig«, murmelte sie. »Es war eben, wie es war. Ja, ich denke, so ist es. Wahrscheinlich fragt sich so etwas jeder, wenn seine Stunde kommt. Wenn ich geblieben wäre, hätte ich am Ende bestimmt geglaubt, etwas verpasst zu haben.« Diesem Gedanken folgte sie ein Stück Wegs, und sie musste beinahe lächeln. »Das wenigstens glaube ich nicht. Nein. Nein, verpasst habe ich nichts.«
    Io ging auf, jetzt entdeckte sie ihn. Ein kleines, schwefelgelbes Auge, das sie anfunkelte.
    »Ich sehe Io, Frederic. Den innersten der Galileischen Monde. Auf Io gibt es die gewaltigsten Vulkane des ganzen Sonnensystems; man kann beinahe von hier aus mit bloßem Auge die Eruptionen sehen, die Schwefelgeysire und die Lavaströme. Ich bin an Io vorbeigeflogen. Aus der Nähe hat man den Eindruck, er müsse jeden Augenblick explodieren. Dann sieht man genauer hin und entdeckt Rauchwolken, die Hunderte von Kilometern in die Höhe geschleudert werden, und riesige Schwefelbrocken, die in Lavaseen schwimmen … Ich habe es gesehen. Bitte, Frederic, denk an mich als an eine, die hinausziehen musste, um die Wunder des Universums zu suchen. Ein paar habe ich gefunden.«
    Sie schaltete ab. Nur kurz. Nur überlegen, was sie ihm noch sagen wollte. Von ihrer Liebe. Ihn um Verzeihung bitten, ihn endlich so sehr um Verzeihung bitten, dass sie auch sich selbst vergeben konnte, gegangen zu sein. Und nun hier zu sein, allein auf einem eisbedeckten Mond, am Ende ihres Weges angekommen.
    Der Augenblick vor ihrem ersten Raumflug fiel ihr wieder ein, dieser panische Moment kurz vor dem Start, ja. Sie hatte vor dem Shuttle gestanden, an dem glänzenden schlanken Metall hinaufgesehen und war erschrocken, wie klein das Fahrzeug war. Das sollte sie hinausnehmen, hinauf zu einer der Raumstationen? Und es gab kein Zurück mehr, sie war Absolventin der Unterstufe, und egal ob sie zitterte oder jubelte, sie würde in einer Stunde in diesem Ding sitzen und sich mittragen lassen müssen, was auch geschah.
    Damals hatte sie diese Angst kennengelernt, die man nicht beachten darf, weil man im Begriff ist, einen Weg zu gehen, den man gehen muss. Würde man dieser Angst auch nur ein einziges Mal nachgeben, hätte man begonnen, sich sein eigenes Gefängnis zu bauen, ihr die Macht über das eigene Leben abzutreten und es so zu verlieren. Und das war schlimmer als alle Gefahren, die einen erwarten mochten.
    Diese Art Angst war es, was sie fühlte. Bangigkeit. Sie machte Herzklopfen, aber sie war kein Grund, innezuhalten. Und was war der Tod anderes als der Aufbruch in das ewig Unbekannte – die endgültige Reise?
    Ein heller Schimmer huschte links von ihr über die Ebene, glitt auf sie zu. Hinter Jupiter ging wieder die Sonne auf. Zuerst erglomm der Rand des Riesen hauchdünn und rotglühend, wie ein feiner leuchtender Haarriss von Pol zu Pol. Dann ergoss sich eine Flut aus flüssigem Gold und Rot über diesen Halbbogen, in der Äquatorzone zuerst, dann rasch hinauf- und hinabgleitend, ein Lodern und Wabern wie ein riesiges Maul aus Feuer, das sich auftat, die Welt zu verschlingen. Und

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