Eine unberührte Welt
hielt mich nicht mehr auf der Couch. Ich stand auf und trat an das Regal, besah mir das Ei aus der Nähe, die eigenartigen Muster darauf. Ich fasste es an. Trotz der Wärmelampe fühlte es sich kalt und hart an, unverwundbar wie ein rundgeschliffener Stein.
Und ich schwöre, einen Moment lang habe ich gespürt, dass es pulsierte. Langsam, wie der Herzschlag eines Wesens, das tausend Jahre alt werden wird. Dann war es vorbei und das Ei wieder ein Gebilde, das man für Marmor halten konnte. Wie ich auch wartete, es passierte kein zweites Mal.
© 2002 Andreas Eschbach
Halloween
Im Frühjahr 2000 war »Das Jesus Video« bei Bastei-Lübbe als Taschenbuch erschienen und entwickelte sich rasch zu jenem Best- und Longseller, der es bis heute ist. Das führte zu näherem Kontakt mit dem zuständigen Lektor, Stefan Bauer, der für den Herbst eine Anthologie zum Thema »Halloween« plante. Ob ich nicht Lust hätte, etwas beizusteuern?
Halloween. Hmm. Nicht unbedingt mein Leib- und Magenthema. Ich musste mir Bedenkzeit erbitten. Blätterte in meinen Notizbüchern, ohne fündig zu werden. Halloween? Was war das eigentlich? Ich griff, wie ich es in solchen Fällen zu tun pflege, zur Encyclopaedia Britannica, las nach, was dort stand …
Und stieß auf ein Detail, das mich elektrisierte. Wie ein Blitz aufleuchtet und eine bis dahin unsichtbare Szenerie ausleuchtet, stand auf einen Schlag die Idee zu dieser Geschichte vor mir. Es war gruselig schön, sie zu schreiben. Und großartig, sie im Herbst 2000 dann als Buch in Händen zu halten.
Hier also: mein Versuch, wie Stephen King zu klingen. Bloß dass die Geschichte nicht in Maine spielt, sondern in Baden-Württemberg. Ich jedenfalls lese sie immer noch gerne.
»Wusstest du, dass Halloween der einzige Tag im Jahr ist, an dem man den Teufel gefahrlos um Beistand bitten kann?«, fragte Norbert mich eines Abends beim Bier in der Wohnheimküche. Wir studierten damals beide Informatik und standen kurz vor dem Abschluss, also muss es Oktober 1992 gewesen sein.
»Halloween?« Das hatte ich bis dahin für die amerikanische Form von Fasching gehalten, ein Fest, bei dem ausgehöhlte, beleuchtete Kürbisse mit eingeschnitzten Dämonenfratzen, Marshmallows und Ähnliches eine Rolle spielten. Etwas, das in Hollywoodfilmen vorkam: Kinder in Gespensterkostümen, die von Haus zu Haus zogen und Süßigkeiten einforderten.
»Steht so in der Enzyklopädia Britannica«, behauptete Norbert. »Halloween geht auf Samhain zurück, das Erntedankfest der alten Kelten. An diesem Tag kehren die Geister der Ahnen in ihre Häuser zurück, und man kann den Teufel anrufen, ohne seine Seele zu verwirken. Oder so ähnlich.«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich bin schon immer ein naives Bürschchen gewesen. »Na und?«
Norbert schob sein Bier beiseite und seinen Stuhl zurück. »Komm«, sagte er. »Ich muss dir was zeigen.«
Was er mir gleich darauf in seinem Zimmer zeigte, war ein altes, dünnes Büchlein, in Frakturschrift gedruckt und in Karton von der Farbe getrockneten Blutes gebunden. Keine Verlagsangabe, keine Jahresangabe. »Ein Privatdruck offenbar«, meinte Norbert. »Ich habe es aus dem Antiquariat in der Ziegenhainstraße. Erstaunlich, was?«
»Seit wann gibt es in der Ziegenhainstraße ein Antiquariat?«, wunderte ich mich. Eigentlich war ich der Büchersammler von uns beiden. Norbert sammelte Sporttrophäen und Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit.
Ich blätterte darin. Mit nicht geringer Verblüffung erkannte ich, dass es in dem Buch um Magie ging, um Beschwörungen und Zauberrituale. Ich klappte es zu. »Was soll das denn werden?«, fragte ich und spürte einen seltsam metallischen Geschmack auf der Zunge dabei.
Norbert sah mich an. Von irgendwoher spiegelte sich ein gelber Schimmer in seinen Augen, was seinem Blick etwas Lauerndes, Verschlagenes gab. »In den Laden bin ich gegangen, weil im Schaufenster ein Buch über Liebeszauber stand«, sagte er.
»Das ist nicht wahr.« Ich warf das Buch auf den Tisch, als könne es jeden Augenblick in meinen Händen Feuer fangen. »Es geht immer noch um Irmina?« Er brauchte gar nichts zu sagen, sein Gesicht war Antwort genug. Ich hob die Hände, zählte ihm die Fakten an den Fingern vor. »Erstens, sie ist jetzt seit über einem Jahr mit ihrem Typen zusammen. Zweitens, sie ist schwanger von ihm. Drittens, der Hochzeitstermin steht schon fest. Ich meine, sieh es endlich ein – das ist gelaufen. Das wird nichts mehr, und wenn du dich
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