Eine unberührte Welt
stapfte los. Ich folgte dichtauf.
Ein Wald bei Nacht, das war nichts für meine Nerven. Ich bin eben doch ein Stadtmensch und Stubenhocker. Die Dunkelheit schien das magere Licht unserer Lampen erdrücken zu wollen, überall knackste und knisterte es, und jedes Mal, wenn ein Regentropfen von einem nassen Blatt rollte und mich traf, setzte schier mein Herz aus. Wir gingen schweigend. Ich hätte was darum gegeben, wenn einer von uns einen Witz gemacht hätte, aber Norbert war von ernster, geradezu finsterer Entschlossenheit beseelt und eindeutig nicht in der Stimmung für Witze.
Endlich erreichten wir die Lichtung. Am Himmel zogen schwarze Wolkenfetzen dahin, zwischen denen ein zunehmender Mond herabsah wie ein halbiertes Auge. Norbert ließ die Tasche geräuschvoll zu Boden fallen, zog das Büchlein noch einmal hervor und rekapitulierte im Schein seiner Lampe die entscheidenden Stellen.
»Bringen wir’s hinter uns«, sagte er dann, und mir rieselte eine Gänsehaut über den Rücken vom Klang seiner Worte. Oder von der Kälte, ich weiß es nicht.
Ich hielt die Taschenlampen und leuchtete ihm, während er zwischen den Pilzen umherschritt, schwarzes Pulver aus einer Plastiktüte vom Baumarkt rieseln ließ und geheimnisvolle Linien damit markierte. Er zog sechs Wachsfackeln hervor, rammte sie entlang des Kreises in den Boden und zündete sie an, sich jedes Mal in die entsprechende Himmelsrichtung verneigend. Es sah zum Angsthaben lächerlich aus.
Er winkte mich her, als alle Fackeln brannten, und deutete auf einen Punkt inmitten einiger Linien, die ein Pentagramm bildeten. »Setz dich da hin«, sagte er. »Da kann dir nichts passieren.«
Ich nickte nur und tat, was er gesagt hatte. Ich hätte kein Wort herausgebracht. Das Gras war nass vom Regen, als ich mich hinkniete, und der Boden kalt.
Norbert setzte sich in die Mitte des magischen Musters, hob die Arme und fing einen Singsang an aus Worten, die ich nicht identifizieren konnte, düsteren, rauen Lauten, dem Bellen von Kettenhunden ähnlicher als menschlichen Stimmen. Ich will das Ritual nicht in Einzelheiten schildern, aber jedenfalls stand irgendwann eine metallene Schale vor ihm, und er hielt die Arme hoch, ein Messer in der rechten Hand und in der linken etwas, das sich bewegte. Mit jähem Entsetzen erkannte ich, dass es eine Maus war, eine lebendige Maus. Das hatte ich nicht gewusst, und ich wollte aufspringen und ihn davon abhalten, zu tun, was er ohne Zweifel zu tun vorhatte, aber ich brachte es nicht fertig. Ich saß da auf meinem Platz im Pentagramm wie festgewachsen und verfolgte mit grausiger Faszination, wie er der Maus den Kopf abtrennte, ihr mit grimmiger Entschlossenheit das Messer in die Kehle bohrte, während sie fiepte und sich wand und ihn aus ihren entsetzten schwarzen Knopfaugen ansah, wie der Blick dieser Augen dann erstarb und wie er ihr Rückgrat durchsäbelte und sie über die Schale hielt und ihr schwarzes Blut hineinlaufen ließ, sie regelrecht auspresste wie eine pelzige Frucht. Ich bringe es nicht über mich, den Namen aufzuschreiben, den er anrief, dreimal, die Schale wie ein Opfer vor sich in die Höhe haltend.
Dann wartete er. Wir warteten. Nichts geschah.
Wären meine Nerven Klaviersaiten gewesen, man hätte Töne darauf zupfen können, hohe Töne, so gespannt waren sie. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, und Norbert hielt die Schale, als wäre er zu einem Standbild erstarrt. Und dann …
Habe ich mir alles nur eingebildet? Jede Überlegung meines rationalen Verstandes kommt genau zu diesem Schluss. Aber so oft ich daran zurückdenke, sehe ich es wieder, höre ich es, spüre ich es. Wie sich eine Stille auf uns herabsenkte, eine kalte, schwere Stille, die die Waldlichtung zu einer düsteren Kathedrale werden ließ. Wie sich das Gras ringsum aufrichtete, jeder einzelne Grashalm, als bekäme die Erde selbst eine Gänsehaut. Wie die Luft erfüllt war von zitternder Elektrizität.
Was.
Es war keine Stimme, nicht wirklich, oder wenn, dann war sie leiser als eine Einbildung. Ich hielt den Atem an, ich merkte, wie Norbert den Atem anhielt, der ganze Wald schien den Atem anzuhalten.
Willst.
Es war eine Stimme, die unser Ohr umging, die direkt an unsere Seelen rührte, eine Stimme mit einem betäubenden, frostigen Klang.
Du.
Ich sah Norberts Rücken einsinken, als gebe er unter einem schrecklichen Gewicht nach. Ich sah seine Lippen zittern, als er sie zusammenpresste. Dann hörte ich ihn sagen: »Ich begehre Irmina Langenstein zur
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