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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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auf den Kopf stellst.«
    Norbert nahm das Buch wieder an sich, betrachtete es eine Weile schweigend und sah dann hoch. »Einen Versuch ist es wert«, sagte er und schob den Unterkiefer trotzig vor. »Die Frage ist lediglich, ob du dabei sein willst oder nicht.«
    Ich weiß nicht mehr, warum ich nicht einfach gegangen bin. Sicher nicht, weil ich sehen wollte, wie Norbert sich blamierte. Nein, in meiner Erinnerung kommt es mir so vor, als sei ich stundenlang da gestanden und hätte dem verführerischen Ruf alter, vergessener Götter gelauscht, als sei eine Stimme in mir wach geworden, älter als die Menschheit oder das Leben selbst. Später sagte ich mir, dass es mich berührt haben musste, zu erleben, wie ein Mann eine Frau so unsagbar begehrte, dass er bereit war, alles zu tun, um sie zu erobern, buchstäblich alles.
    Ich ging also nicht. Ich fragte: »Wann genau ist eigentlich Halloween?«
     
    Irmina Langenstein war bestürzend intelligent, begehrenswert schön, ehrlich, warmherzig, sympathisch – jede Sünde wert, wie man so sagt. Sie hatte gerade von Kunstgeschichte zu Germanistik gewechselt, als sie und Norbert sich auf einem Fachschaftsfest begegneten. Es knallte heftig, allerdings nur bei Norbert – Irmina gab ihm nach einigen weiteren Begegnungen zu verstehen, dass sie ihn durchaus schätze, aber eben als Freund und nichts weiter. Einer jener Sätze, die einen Mann ins innerste Mark treffen und dort hängenbleiben wie Harpunen mit Widerhaken.
    Kurz darauf sah man Irmina Langenstein – sie war eine Erscheinung, die man unmöglich übersehen konnte – Arm in Arm mit einem Tutor, einem dürren Spätintellektuellen mit langem, grau werdendem Haar, der zerschossene Cordjacketts trug, seit Jahren an einer Doktorarbeit über Hölderlin bosselte, einen Alfa Romeo mit offenem Verdeck fuhr und als den angenehmen Dingen des Lebens zu sehr zugeneigt galt, als dass man seiner Doktorarbeit ernsthafte Chancen eingeräumt hätte.
    Norbert verging fast – vor Eifersucht zuerst, dann vor Verzweiflung. Ich hatte ihm nicht alle Aktionen ausreden können, mit denen er sich in dem vergeblichen Versuch, sie zu erobern, zum Narren machte. Er ließ sie über alle einschlägigen Radiosendungen grüßen. Er schickte ihr Blumen, bis sein Überziehungskredit erschöpft war. Er lauerte ihr auf, um ihr zu Füßen zu fallen, und ihm, um ihn zusammenzuschlagen – was kläglich misslang, denn der Nebenbuhler verließ das Institut an jenem Abend ahnungslos durch einen anderen Ausgang, während Norbert sich beim Warten eine Erkältung holte, die ihn zwei Wochen ans Bett fesselte. Kurz darauf kursierte bereits das Datum von Irminas Hochzeit, und irgendwer wusste, dass sie schwanger war. Deshalb die Eile, denn Irminas Eltern gehörte eine kleine Baufirma draußen auf dem Land, und sie hatten einen Ruf zu verlieren. Aber da Irmina ohnehin vor Glück so strahlte, dass man das Audimax mit ihr hätte ausleuchten können, war das kein Problem für sie.
    Für Norbert schon. Wenn ich mich recht erinnere, war das sogar das Erste, was er mir über sie erzählte: dass sie jede Sünde wert sei.
     
    Am späten Abend des letzten Oktobertages – Halloween also – fuhren wir hinaus zu dem Platz, den er sich für das Ritual ausgesucht hatte, ein kleines Wäldchen, nicht weit entfernt von Irminas Heimatort.
    »Es ist abgelegen genug, dass uns keiner stört. Mitten drin ist eine Lichtung, und auf der Lichtung ein Hexenkreis. Bevor du fragst: Das sind Pilze, die entlang einer kreisförmigen Linie wachsen. Es gibt eine Erklärung, warum sie das tun, aber ich habe sie wieder vergessen. Jedenfalls, eine Lichtung mit einem Hexenkreis. Der ideale Platz.«
    »Man könnte meinen, du glaubst den ganzen Quatsch wirklich«, sagte ich.
    »Heute Abend«, antwortete er und sah mich mit unerbittlichen Augen an, »glaube ich ihn. Nur heute Abend.«
    Wir fuhren ein Stück tiefer in den Waldweg hinein, als erlaubt war, aber es war kurz nach zehn Uhr abends, und niemand sah uns. Wir stiegen aus. Die nasskalte Dunkelheit des Waldes umfing uns, roch nach Moder und nassem Holz und tausend anderen Dingen, und ich fing an zu bedauern, mich auf dieses verrückte Unternehmen eingelassen zu haben.
    Norbert packte zwei dicke Taschenlampen aus und reichte mir eine. Ich knipste sie sofort an und ließ den blassen Strahl die Umgebung abtasten: Nirgends waren Monster zu sehen, nicht einmal Tiere. Norbert schulterte eine Tasche, die wohl die Utensilien für das Ritual enthielt, und

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