Eine unberührte Welt
bleiben können. Ihr glaubt mir nicht, schön – aber ihr braucht mir nicht zu glauben! Ihr könnt einfach mit mir kommen, und ich zeige euch den Weg, den ich gegangen bin. Wir brauchen nicht hierzubleiben, versteht ihr? Wir brauchen uns nicht sinnlos den Vampiren zu opfern. Wir können einfach fortgehen in ein besseres Land.«
»Vielleicht«, warf eine bedächtige, Ehrfurcht gebietende Stimme ein, »hat das alles seinen guten Grund.« Der Spott und das Gelächter erstarben. Die Männer wichen respektvoll beiseite, um den alten Gurot durchzulassen. Man machte ihm Platz, damit er sich an den Tisch setzen konnte, Siren gegenüber.
Gespannte Stille herrschte plötzlich. Gurot legte die Heilige Schrift vor sich hin, rieb sich die Reste der Opferkräuter von den Fingerspitzen und musterte den jungen Siren aufmerksam, der unter diesen Blicken kleiner zu werden schien. Langsam sagte er: »Ich möchte dir zunächst sagen, Siren, dass ich mich freue, dass du noch am Leben bist, und dass ich dich beglückwünsche.«
»Danke«, sagte Siren tonlos.
»Man hat mir von deinen Erzählungen berichtet, während ich das Huldigungsopfer darbrachte«, fuhr der Alte bedächtig fort, »und ich denke, ehe du dich immer wieder und wieder wiederholst, sollten wir alles einmal gründlich bedenken und von allen Seiten betrachten.«
Siren sagte nichts.
»Du bist der Überzeugung, dass du uns etwas von enormer Wichtigkeit mitzuteilen hast; hat man mir das richtig überbracht?«
»Ja.«
»Und du wunderst dich, dass deine Schilderungen hier auf, sagen wir einmal, Skepsis stoßen. Sehe ich das recht?«
»Genau.«
Gurot faltete die Hände in einer Geste der Nachdenklichkeit. »Nun, Siren, ich möchte, dass du dich einen Moment in die Lage dieser Leute hier versetzt. Du bist noch jung, gerade mannbar geworden, in dir brennt noch die Hitze der Jugend und ihre Fantasie. Überdies weißt du selbst, dass du nicht eben das warst, was man ein wohlerzogenes Kind nennt; du erinnerst dich sicher selber am besten an manche Streiche, Lügen und andere Vorfälle, die man beim besten Willen nicht als Zeichen übermäßiger Zuverlässigkeit verstehen kann. Versteh mich recht, ich verurteile damit weder dich noch das, was du sagst, ich möchte im Gegenteil alles gründlich bedenken, aber ich möchte zunächst, dass du mir sagst, ob ich gerade etwas Unwahres über dich erzählt habe.«
»Nein«, gestand Siren, »aber …«
Gurot hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Ferner möchte ich wissen, ob du dir vorstellen kannst, dass einige der hier Anwesenden einfach aufgrund deiner Jugend und der Erinnerungen an deine Kinderstreiche voreingenommen gegen dich sind. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ja.«
»Gut. Aber wie gesagt, wir wollen alles gründlich bedenken, unabhängig von all diesem.« Der alte Mann legte seine Hand auf das Buch vor ihm. »Du weißt, dass ich mich eingehend mit den alten Schriften und Überlieferungen befasst habe. Danach zu urteilen, hat es immer diese zwei Seiten gegeben: auf der einen Seite wir, die Menschen – auf der anderen Seite sie, die Vampire. Man kann natürlich fragen, warum. Viele alte Schriften tun das auch. Meistens fragen sie gleichzeitig nach Gott, dem Schöpfer aller Dinge, und nach der Rolle, die wir oder die Vampire in seinem Plan spielen. Die unangenehmste Antwort ist meist die, dass wir Menschen vielleicht einfach nur als Futter für die Vampire dienen sollen. Das gefällt uns nicht. Mir gefällt das auch nicht, ebensowenig wie dir, aber andererseits können wir unser Gefallen oder Missfallen nicht zum Maßstab aller Dinge machen, nicht wahr? Etwas ist so, wie es ist, unabhängig davon, ob es uns gefällt oder nicht. Eine andere Erklärung, die immer wieder gefunden wird, ist, dass es einfach stets ein Gleichgewicht geben muss zwischen der Zahl der Menschen und der Zahl der Vampire. Wenn es viele Menschen gibt, steigt die Zahl der Vampire, und diese dezimieren wieder die Anzahl der Menschen. Gibt es umgekehrt zu wenig Menschen, verhungern viele Vampire, und die Menschen können sich wieder vermehren. Ohne die Vampire, heißt das, würden wir Menschen uns schrankenlos, ins Unermessliche vermehren.« Gurot spreizte die Finger. »Aber, wie gesagt, das ist auch nur ein Erklärungsversuch, der uns nicht zu gefallen braucht. Was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass wir nicht wissen, wozu Vampire da sind. Wir wissen aber auch nicht, wozu der Tag da ist oder die Nacht. Wir wissen nicht einmal, wozu wir selber da
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