Eine unberührte Welt
sind oder wozu es so etwas wie Leben überhaupt gibt. Letztlich ist alles ein Mysterium. Alles ist einfach so, wie es ist.«
Gurot sah in die Runde, in andachtsvoll lauschende Gesichter. »Ich muss wohl nicht erwähnen, dass in den alten Schriften nirgends, nicht an einer einzigen Stelle, die Rede davon ist, dass es jenseits der Berge so etwas wie ein gesegnetes Land geben könnte. In den Überlieferungen existiert nicht der geringste Hinweis auf ein Land, wo keine Vampire, sondern nur glückliche Menschen leben. Zwar sprechen die Schriften durchaus von einem gelobten Land, aber um dorthin zu gelangen, muss man ein gottgefälliges Leben im Diesseits führen, ein Leben der Arbeit, der Entsagungen und der Prüfungen. Das ist natürlich anstrengend und unangenehm. Dass man dieses gelobte Land auch anders, nämlich durch einen einfachen Fußmarsch erreichen könne – das hat noch nie jemand behauptet. Noch nie bis heute Abend. Bis du kamst, Siren. Sag mir eines: Findest du das nicht selber merkwürdig?«
»Vielleicht ist vor mir noch nie jemand zurückgekehrt von dort?«
»Ah ja?« Gurot hob die Augenbrauen. »Aber jetzt bist ja du da, nicht wahr? Jetzt wird alles anders. Die heiligen Schriften, die alten Bücher, das können wir nun alles bedenkenlos verbrennen, denn du bringst uns die Wahrheit. Unsere zahllosen Toten können wir vergessen, denn sie sind ja ganz sinnlos gestorben. Denn ein Zeitalter geht zu Ende heute Abend, nicht wahr, und ein neues beginnt. Sollen wir es das Zeitalter des Siren nennen?« Seine Stimme war schneidend scharf geworden.
Siren schaute hilflos drein. »Ich kann euch nur sagen, dass ich …«
»Ganz zweifellos glaubst du, was du sagst, Siren«, nickte Gurot. »Ich glaube dir. Wirklich. Ich bin der festen Überzeugung, dass du wirklich glaubst, jenseits der Berge liege die Erlösung.«
»Ja?«
»Ja, sicher. Siehst du, Siren, mir geht es so, dass ich das gerne auch glauben würde. Wirklich, mein Herz brennt danach, dir zu glauben. Aber mein Kopf …« Er lehnte sich zurück und lächelte wehmütig. »Mein Kopf kennt mittlerweile die Schliche des Herzens. Das Herz glaubt, was es sich wünscht. Höre mir nun gut zu, Siren, und versuche von meiner Lebenserfahrung zu profitieren. Ich will dich nicht verurteilen. Ich möchte dir nur erklären, was in dir vorgeht. Man glaubt das, von dem man sich wünscht, es wäre so. Und es ist immer das Herz, das sich etwas wünscht. Es ist auch das Herz, das Angst hat. Und wenn das Herz in Aufruhr ist, dann denkt der Kopf nicht mehr klar, dann gerät er in Fieber und verstrickt sich in die unglaublichsten Hirngespinste. Wer von uns hat das noch nicht erlebt? Man verliebt sich in ein Mädchen – und schon gewinnt man aus der kleinsten Freundlichkeit, die sie einem erweist – und ebenso leicht aus jeder Unfreundlichkeit –, die unumstößliche Gewissheit, dass sie unsere Liebe insgeheim erwidert. Sagt, erinnere ich mich da richtig?«
Die Männer lachten.
»Versuche dich zu erinnern, was in dir vorgegangen ist, Siren. Ich weiß es nicht, du allein weißt es. Du hast vielleicht überlegt, was für ein erbärmliches Leben das ist, das da auf dich wartet: ein Leben, in dem es heißt, einem kargen, felsigen Boden Nahrung abzutrotzen, und dabei ständig Angst haben zu müssen vor den Vampiren. Du weißt nicht, ob du einmal so alt wirst wie ich oder ob du morgen schon stirbst. Es ist unangenehm, über all das nachzudenken. Vielleicht hast du dich deswegen in eine Fantasie geflüchtet. Doch eine Fantasie kann einen nicht trösten, solange man noch weiß, dass es nur eine Fantasie ist. Damit die Angst vergeht, muss es zur Gewissheit werden. Also steigerst du dich hinein, glaubst fest daran, zweifelst nicht mehr an der Realität dessen, was du glaubst – aber unter der Oberfläche bleibt ein leiser Zweifel. Dieser heimliche Zweifel ist es, der dich antreibt, andere überzeugen zu wollen. Dein Kopf ist in Fantasien verstrickt, und er will die Bestätigung anderer: Wenn andere dir zustimmen, dir sagen, dass du recht hast, dann kannst du es besser glauben, als wenn du allein bleibst damit …«
»Es ist genug, alter Mann!«, rief Siren wütend und sprang auf. Becher fielen um. Jeder hielt den Atem an. Noch nie hatte jemand gewagt, Gurot derart zu unterbrechen. »Du versuchst mit tausend klugen Worten die Wahrheit hinwegzuerklären, nichts weiter. Bleib von mir aus bei deinen staubigen alten Büchern, wenn sie dir mehr bedeuten als dein Leben! Ich sage euch nur,
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