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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Seine Hand bekam den Dornenstock zu greifen, und ein wütendes, hilfloses Schluchzen drang wie von selbst aus ihm heraus. Nutzlos. Es gab keine Waffen, keinen Schutz. Wenn Opferzeit war, musste Blut fließen, so war es. Wenn sie nachts keine Beute fanden, kamen sie bei Tage. Wenn sie auf den Feldern und in den Gassen niemanden kriegen konnten, drangen sie in die Häuser ein. Wenn die Vampire hungrig waren, dann musste ein Mensch sterben.
    Und heute Nacht war die Reihe an Livet gewesen. Bran stemmte sich elend hoch. Gellende Schreie hallten von den Bergen wieder, weit entfernt. Jetzt waren sie im Blutrausch. Er musste machen, dass er das Dorf erreichte. Heute Nacht würden sie jeden nehmen, den sie kriegen konnten, ob sie noch hungrig waren oder nicht.
    Aber er war genug gerannt heute Nacht. Seine Schenkel brannten vor Erschöpfung, und der kalte Wind, der den Schnee von den Bergen herabtrug, fror ihm das Leben aus dem Leib. Einfach vornüberkippen, liegenbleiben, selbst zur Beute werden. Es endlich überstanden haben. Nur die Füße waren nicht einverstanden, trugen ihn weiter, stapften durch aufgeweichte Gassen, fanden den Weg zum Versammlungshaus, und dort zogen ihn Hände zur Tür herein, in dampfende Wärme.
    »Bran … er ist zurück … er lebt …« Gemurmel um ihn herum. Man setzte ihn an den Ofen, jemand reichte ihm eine Schale mit Brühe. Es war eine sehr dünne Brühe. Dieses Jahr reichte es kaum zum Leben. Die Vampire hatten die Felder verwüstet wie selten zuvor.
    »Geht es dir besser?«
    Er nickte, wärmte die Hände an der Schale. Aber die Wahrheit war, dass er nicht wusste, ob es ihm gut ging oder nicht.
    »Livet?«
    »Sie haben ihn geholt.«
    Das Raunen trug Livets Namen weiter. Aus dem Raum der Frauen drang gleich drauf Wehklagen. Aber gleichzeitig war so etwas wie Aufatmen zu spüren – Hoffnung, dass die Vampire nun wieder einmal zufrieden sein würden für eine Weile.
    »Dies ist ein Abend der Wunder«, rief plötzlich jemand. »Von dreien, die wir tot glaubten, sind zwei unversehrt zurückgekehrt!«
    »Ehre sei dem Herrn des Tages und der Nacht«, murmelte ein Chor dumpfer Männerstimmen.
    Bran sah den neben sich fragend an.
    »Siren ist zurückgekommen«, erklärte der.
    »Siren? Aber wie kann das …?« Bran erinnerte sich, dass der junge Bursche vor zwei Monden verschwunden war. Natürlich hatte ihn jeder für tot gehalten. Es war unglaublich, dass er diese lange Zeit ohne den Schutz des Dorfes überstanden haben sollte.
    »Dort hinten sitzt er. Und erzählt Dinge, die nicht mal das dümmste Kind glauben würde.«
    »Ja? Was denn?«
    »Kannst ihm ja zuhören. Er hört gar nicht auf zu reden.«
    Bran erhob sich mühsam und mischte sich unter die Männer. Sie umringten einen Tisch, an dem wahrhaftig Siren saß, gesund und lebendig, und der aufgeregt anredete gegen die Wand aus zweifelnden oder spöttisch grinsenden Gesichtern rings um sich herum.
    »Stellt euch Wiesen vor, grün und saftig, so weit der Blick geht. Stellt euch Felder vor, jedes so groß wie unser ganzes Dorf, die herrlich blühen. Stellt euch Bäume vor, Hunderte davon, die voller süßer Früchte hängen …«
    »Märchenland!«, warf jemand ein.
    »Die Menschen dort«, rief ihm Siren entgegen, »wissen nicht einmal, was Vampire sind. Sie versammeln sich nachts unter freiem Himmel und feiern, zünden große Feuer an, um die herum sie fröhlich tanzen, lachen, singen, essen und trinken. Sie haben keine Angst vor der Nacht – sie lieben sie geradezu!«
    »Geschichten erzählen konntest du schon immer, Siren«, meinte einer und erntete zustimmendes Gelächter.
    »Ich habe das alles gesehen!«, erregte sich Siren. »Ich habe das alles gesehen, mit diesen Augen! Mit diesen Händen habe ich reife Früchte von Bäumen gepflückt, ganze Körbe voll. Mit diesen Beinen bin ich durch Felder gegangen, deren Korn mir bis zur Hüfte reichte –«
    »Wo ist dieses Land?«, fragte Bran.
    Siren sah ihn an. »Ich sagte es doch schon – jenseits der Berge. Ich habe einen Weg über die Berge gefunden. Und ich sage euch, auf der anderen Seite liegt ein Land, das unvorstellbar schön und reich ist; ein Land, in dem es keine Vampire gibt!« Er hob hilflos die Hände. »Warum versteht mich denn keiner? Sehe ich so aus, als sei ich verrückt geworden? Ich hätte dort bleiben können. Ich hätte nicht zurückzukommen brauchen, um euch davon zu berichten. Ich hätte nicht riskieren müssen, dass die Vampire mich doch noch erwischen. Ich hätte einfach

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