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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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was er darauf sagen sollte. Alles, was er gelernt und erfahren hatte, bestätigte ihm, dass Gham’bia recht hatte.
    Sie hatten den Rundgang über den Parkweg gerade vollendet. »Komm«, forderte Gham’bia ihn auf, »setz dich ein wenig zu uns an den Tisch.«
    An dem Tisch herrschte eine ausgelassene Stimmung. Den Löwenanteil der Unterhaltung bestritt eine hochgewachsene blonde Frau mit dem Erzählen von Anekdoten. Das musste Tante Vataia sein. Tonak wusste, dass sie seit einiger Zeit der Regierung von Südbrasilien angehörte und in allerlei wichtigen Gremien mitwirkte.
    »… die Bolivianer waren harte Burschen, wirklich hart. Da war harter Widerstand. Bis jemand aus unserer Delegation die geniale Idee hatte, die Berechnungen für die Umweltverträglichkeit des Sonnenkraftwerks auf dem Illampu nachzuprüfen, und siehe da – Fehler über Fehler! Das war der entscheidende Durchbruch. Der nahm den Falken buchstäblich die Waffen aus der Hand.«
    »Bolivien!«, warf eine untersetzte ältere Frau ein. »Ich weiß noch, wie entsetzt ich auf meiner ersten Reise dorthin war. Die klotzen ihre Häuser einfach in die Landschaft, und ihre Fabriken gleich daneben. Schrecklich. Wirklich tiefstes zwanzigstes Jahrhundert, möchte man meinen.«
    Eine kleine Weckuhr, die Tante Vataia an einer silbernen Kette um den Hals trug, gab einen melodischen Ton von sich. Sie sah auf das Zifferblatt, dann erhob sie sich und klatschte in die Hände. »Liebe Gäste, darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten? Die Wetterkontrolle hat für zehn vor elf Regen angekündigt. Wir verlegen die Feier deswegen jetzt nach drinnen. Bitte seid so gut und helft alle, die Sachen hineinzutragen!«
    Ein großes und lautstarkes Tischerücken, Stühleschleifen und Schüsseltragen brach los. Unter Gekicher und Geschnatter wurden Türen geöffnet, Vorhänge aufgezogen, Tischdecken zusammengefaltet und Anrichteplatten leergescharrt. Tonak überließ die klirrenden Getränkekisten den anderen und half den Frauen, die Kerzen von den Tischen einzusammeln und nach drinnen zu bringen.
    Als er zwei der Kerzen auf eine Vitrine stellte, fiel sein Blick auf einen gerahmten Druck, der darüber an der Wand hing. Es war eine kunstvoll gestaltete Landkarte Südbrasiliens. Sie zeigte die Aufteilung des Landes in Wohnbereiche, Erholungsgebiete, Arbeitsareale und landwirtschaftliche Nutzflächen, die Straßen, Flüsse und Flughäfen. Er wollte sich schon wieder abwenden, als sein Blick an einem weißen Fleck auf dieser Karte hängenblieb, auf dem stand: Wildnis.
    Ihm war, als setze sein Herz einen Schlag lang aus. Unmöglich konnte Christopher Kolumbus anders empfunden haben, als damals tatsächlich Land am Horizont auftauchte in einer Richtung, in der alle anderen nur das Ende der Weltenscheibe erwartet hatten.
    Wildnis!
    Gab es also noch Überreste des legendären Amazonas-Dschungels, ungezähmt gebliebene Relikte des ungeheuren Urwalds, der diesen Kontinent einmal überwuchert haben musste?
    Er hob mit bebender Hand eine der beiden Kerzen und sah genauer hin. Kein Zweifel. »Wildnis« stand da, und rings um den weiß gebliebenen Fleck auf der Karte menschlichen Einflusses war eine gestrichelte Linie gezogen: die Grenzbefestigungen markierend, mit denen die Zivilisation sich das Ungezähmte, Unheimliche vom Leib hielt. Tonak studierte die Namen der Wohngebiete, die Namen der Straßen und Flüsse. Sein Herz machte einen weiteren Satz – irrte er sich auch nicht? Spielte ihm sein sehnlichster Wunsch auch keinen Streich? Er vergewisserte sich wieder und wieder, aber es schien ihm so, als befänden sie sich hier, in diesem Haus, in unmittelbarer Nähe dieses weißen Flecks, in direkter Nachbarschaft zum Urwald.
    Er suchte und fand seine Cousine. »Gham’bia, stimmt das, dass hier ganz in der Nähe die Wildnis beginnt?«
    »Der Dschungel?« Sie sah ihn mit großen, verständnislosen Augen an. »Ja, der ist auf der anderen Seite des Flusses. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, wir sind hier absolut sicher.«
    »Wie kommt man dorthin?«
    »Wie meinst du das, wie kommt man dorthin?«
    »Wohin muss ich gehen, wenn ich in den Urwald gehen will?«
    »In den Urwald?«
    »Ja. In den Dschungel. In die Wildnis.«
    Völlige Verständnislosigkeit. »Man kann nicht in den Dschungel gehen. Es gibt keinen Weg dorthin. Und selbst wenn es einen gäbe, man braucht eine staatliche Erlaubnis dafür.«
    »Ist der Dschungel eingezäunt?«
    »Nein, aber es gibt einfach keine Brücke über den

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