Eine unberührte Welt
Fluss. Tonak, was soll das? Was stellst du mir für komische Fragen?«
Tonak sah sie an. »Vergiss es. Es hat mich nur interessiert.«
Sie musterte ihn von oben bis unten aus ihren unergründlichen schwarzen Augen. »Mach bitte keinen Unsinn, Tonak. Du kennst den Dschungel nur aus Erzählungen, aus Büchern … Es ist wirklich gefährlich dort, weißt du?«
»Ja, natürlich. Es hat mich nur interessiert.« Er machte, dass er fortkam, ehe er noch mehr preisgab von dem, was in ihm vorging.
»Es regnet!«, rief jemand. Tonak sah beinahe automatisch auf seine Uhr: zehn vor elf. Pünktlich wie immer. Zuerst nur kleine, glitzernde Punkte auf den großen Glasscheiben und dunkle Flecken auf der Terrasse, dann setzte der Regen ein, weich und gleichmäßig niederpladdernd, so, wie es am besten war für die Pflanzen.
In dieser Nacht fand Tonak keine Ruhe, und das lag nicht nur an dem engen Gästebett. Der Urwald! Ganz in der Nähe! Das letzte Stück ungezähmter Natur auf der ganzen Welt, und er war nur einen Fußmarsch davon entfernt. Er konnte nicht schlafen, wälzte sich wie im Fieber.
Wann würde eine solche Chance einmal wiederkehren in seinem Leben? Das war leicht auszurechnen: nie. Er stand am Ende seiner Ausbildungszeit, Beruf und Familiengründung warteten auf ihn, und dann … nichts weiter. Das war es dann.
Tonak schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Es war nackter Wahnsinn, was er vorhatte, das wusste er. Aber in ihm war ein Verlangen, ein brennendes Sehnen, das stärker war als er und alle vernünftigen Argumente. Er zog sich rasch und geräuschlos an und schlüpfte aus dem Zimmer.
Das Haus lag dunkel und still. Später sollte er sich daran erinnern, dass er sich nie vorher und nie mehr danach so sehr lebendig gefühlt hatte wie in diesem Moment, als er mit verhaltenem Atem und leise wetzenden Schritten durch die dunklen Korridore schlich.
Er nahm eine der Kerzen, die von der Party übrig geblieben waren, und zündete sie an. In der Küche und im Keller fand er einiges von dem, was er suchte. Dann verließ er das Haus durch eine der Terrassentüren.
Die Nacht war kühler, als er erwartet hatte. Er marschierte entschlossen los, inständig hoffend, dass er sich richtig orientiert hatte. Er stapfte voran, so schnell es ging, und ihm wurde rasch warm.
Er erreichte den Fluss nach ungefähr anderthalb Stunden. Die letzte halbe Stunde hatte er querfeldein gehen müssen, weil kein Weg und keine Straße bis ans Flussufer führte. Schließlich kam er bei den Bäumen an, die das Wasser säumten, stolperte die Böschung hinab und stand am Ufer.
Da floss er, träge glitzernd, ein breiter Flusslauf, der die Zivilisation vor dem letzten Dschungel schützte wie ein Burggraben. Tonak hockte sich hin und steckte die Hand ins Wasser. Es war eiskalt.
Darin besteht das Abenteuer, dachte er. Die Herausforderung anzunehmen. Er begann, sich auszuziehen und seine Kleider in den Plastiksack zu stopfen, in dem er die hastig zusammengesuchte Ausrüstung bei sich trug.
Schließlich war er nackt. Schlotternd knotete er den Beutel zu, wobei er ein kurzes Seil mit einflocht, dessen anderes Ende er um den rechten Oberarm schlang. Er zerrte kräftig an dieser Befestigung, aber sie hielt. Um keinen Preis durfte er diesen Sack verlieren.
Und nun ins Wasser. Er tat zitternd und bebend einen Schritt vor in den Schlamm des Flusses, sodass das Wasser seine Knöchel umspülte. Es war beißend kalt. Noch nie hatte er derartige Kälte am eigenen Leib gespürt. Hätte man ihm das befohlen, was er aus eigenem Entschluss zu tun im Begriff war, er hätte sich mit aller Kraft geweigert. Nun aber stieg ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit in ihm auf, einer Freiheit, die auf nichts anderem beruhte als auf seinen eigenen Kräften und Fähigkeiten, eine Freiheit, die ihm niemand geben musste, sondern die schon immer sein Eigen gewesen war und die er jetzt erst, endlich, entdeckt hatte.
Schritt um Schritt watete er weiter in den Fluss hinein, mit zusammengebissenen Zähnen und am ganzen Leib fröstelnd. Der Strom zerrte gewaltig an ihm, als ihm das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte, und als es tiefer und tiefer wurde, musste er schließlich ganz eintauchen, was ihm nicht ohne einen Schrei gelang, und loslassen, sich forttragen lassen von der Strömung.
Er schwamm mit kräftigen, gleichmäßigen Zügen. Die Kälte raubte ihm fast den Atem, umschloss ihn mit erbarmungslosem Griff. Aber er spürte eine animalische Wildheit in sich
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