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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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erwachen, eine rohe Entschlossenheit, das andere Ufer zu erreichen, und wenn es das Letzte sein sollte, was er im Leben tun würde. Diese Kraft setzte sich der Kälte entgegen und ließ ihn weiter kraftvoll ausholen.
    Und endlich langte er auf der anderen Seite an, auf einer flachen Sandbank. Keuchend riss er den Beutel auf und zerrte das Handtuch hervor, um sich damit trockenzureiben, die Glieder seines Körpers wieder ins Leben zurückzumassieren. Er hätte jauchzen können. Er hatte es geschafft. Er hatte es tatsächlich geschafft. Triumphierend blickte er zurück auf die Seite, die er hinter sich gelassen hatte, sah vereinzelte Lichpunkte in weiter, weiter Ferne. Dann drehte er sich um, und da war nur Dunkelheit, reine, finstere Nacht, in der kein Licht außer dem des Mondes existierte. Er hatte es geschafft. Er war ihnen entkommen.
    Er war … draußen!
    Nachdem er sich wieder angezogen hatte, drang er behutsam in den Wald vor. Fremdartige Gerüche umfingen ihn, süßliche Düfte, ekelerregende Ausdünstungen, der Moder von faulendem Holz. Äste knackten unter seinen Füßen und lösten zischelnde Geräusche irgendwo im Dunkel aus, die ihm Schauder über den Rücken jagten. Ab und zu blieb er stehen und lauschte, am ganzen Körper angespannt. Es war still, bis auf fernes Zirpen und Rascheln. Er konnte den Urwald um sich herum spüren wie einen einzigen riesigen Organismus, und es war ihm, als marschiere er geradewegs in den Schlund eines kolossalen Ungeheuers.
    Er begriff, dass es nicht ratsam war, bei völliger Dunkelheit durch einen Dschungel zu stolpern, von dem er nichts wusste. Er kehrte um und suchte einen geschützten Platz am Waldrand. Sein Körper glühte noch immer von dem kalten Wasser, und er fühlte alle Lebenskräfte in sich beben und pulsieren, aber er spürte auch bleierne Müdigkeit aufsteigen, die Müdigkeit eines anstrengenden Transatlantikfluges, eines langen Tages und einer ereignisreichen Nacht. Er legte sich nieder, zwischen Moos und raschelnden Blättern, und schlief auf der Stelle ein.
    Als er erwachte, war es hell. Er brauchte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, was geschehen war. Wäre er an diesem Morgen in seinem Bett erwacht, er hätte das Erlebte bereitwillig als fantastischen Traum akzeptiert. Aber dies war die Wirklichkeit. Mit einem Schlag war er hellwach.
    Die Sonne stand schon recht hoch am Himmel und brannte kraftvoll auf ihn herab. Er sah sich blinzelnd um. Bei Tag wirkte alles weit weniger bedrohlich, fast schon gewöhnlich. Da war der Fluss, den er durchschwommen hatte. Und wenn er sich umdrehte, der Wald mit seiner sinnverwirrenden Vielfalt verschiedener Pflanzen, Bäume, Sträucher und Blüten. Tonak nahm sein Bündel und stand auf. Der Dschungel wartete auf ihn.
    Mit dem großen, scharfen Messer, das er aus Tante Vataias Küche entwendet hatte, arbeitete er sich durch das Unterholz vorwärts. Jetzt war der Wald wach. Um ihn herum, unsichtbar im Dickicht, spektakelte und krakeelte es ohrenbetäubend, war unentwegt von irgendwoher ein Schnattern und Gackern, Zischen und Rascheln, Zwitschern und Gurren zu hören. Das grelle Sonnenlicht brach funkelnd durch das Dach der hohen Bäume und zauberte Schatten und Reflexe in unzählbaren Farben auf die Blätter, Blüten und Zweige ringsherum.
    Tonak verspürte Hunger, und das in nicht geringem Maß. Er konnte sich kaum erinnern, jemals derart hungrig gewesen zu sein. Sein Blick fiel auf einige Beeren. Sie mochten essbar sein oder das pure Gift, er wusste es nicht. Misstrauisch pflückte er einige der Beeren und roch daran, zerquetschte eine zwischen den Fingern und schnupperte wieder. Sie roch nicht gut, faulig und stechend. Er warf die restlichen Beeren weg und setzte seinen Weg fort.
    Er würde nicht umhinkommen, ein Tier zu töten, um es zu essen. Vorsichtshalber hatte er die Schusswaffe mitgenommen, die er im Keller in einer Schublade gefunden hatte und von der er vermutete, dass sie Onkel Peret gehörte. Es würde eine Weile dauern, bis er sich eine eigene Waffe, einen Bogen etwa, gebaut hatte und gelernt, damit umzugehen. Vordringlich musste er eine Stelle finden, an der er ein ständiges Nachtlager errichten konnte und an der ihm frisches Wasser zur Verfügung stand.
    Diese Überlegungen machten ihn beinahe trunken vor Ekstase. Nie hätte er zu hoffen gewagt, einmal tatsächlich Abenteuer zu erleben, vergleichbar jenen, von denen er all die Jahre in dem unterirdischen, muffigen Lesesaal unter dem wachsamen Auge des

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