Eine unberührte Welt
tief Luft. »Das sind spannende Erzählungen aus den Zeiten, als die verschiedenen Gegenden der Erde entdeckt und erstmals bereist wurden. Marco Polo … Jack London … Robinson Crusoe … Karl May … über die Konquistadoren, die Wikinger, die Ritter, die Großwildjäger …«
»Merkwürdig. Und das gefällt dir?«
»Ja, es ist einfach aufregend. Ich versuche immer, mir vorzustellen, was das für Zeiten gewesen sein müssen, als jemand zu einem anderen Erdteil aufbrechen konnte, über den er so gut wie nichts wusste. Manche zogen los und fanden sagenhafte Schätze, oder unbekannte Völker, oder sie entdeckten Tiere, die bis dahin unbekannt gewesen waren …«
»Das muss ziemlich gefährlich gewesen sein, oder?«
»Natürlich, das ist ja das Abenteuerliche daran: dass sie sich in Gefahr begaben und sie doch bewältigten, mit ihrer eigenen Kraft und Klugheit. Heutzutage ist das überhaupt nicht mehr möglich. Heute sieht es überall auf der Welt gleich aus, die ganze Erde ist eine Art Parklandschaft geworden, sauber, gepflegt und ungefährlich. Alles Leben läuft nur noch in geregelten Bahnen.«
»Ich glaube, du bist ein ziemlicher Träumer, Cousin«, meinte Gham’bia. »Das war doch klar: Wenn deine Abenteurer ständig ausziehen und die Welt erforschen, muss logischerweise der Tag kommen, an dem alles vollständig erforscht ist. Und so ist das eben heute. Vielleicht gibt es heute keine solchen Gefahren mehr, aber dafür muss niemand mehr hungern oder Angst um sein Leben haben.«
Tonak nickte betrübt. »Ja, sicher. Das weiß ich alles auch. Aber ist das denn das ganze Leben? Dass man zu essen hat und eine Wohnung, eine Arbeit, eine Familie … und weiter nichts?«
»Das ist doch schon eine ganze Menge«, meinte Gham’bia. »Was willst du denn außerdem noch?«
»Ich weiß nicht«, gab Tonak zu. »Ich habe nur irgendwie das Gefühl, dass das nicht genug ist.«
Gham’bia schüttelte den Kopf in einer Art, die etwas Mütterliches an sich hatte, trotz ihrer Jugend. »Ich glaube, du bist einfach gerade in einer Umbruchphase. Die Schule geht zu Ende, und du weißt noch nicht so recht, was kommt. Wenn du dich erst auf deinem Platz eingelebt hast, wirst du anders über all das denken.«
Eine Umbruchphase? Tonak seufzte innerlich. Wenn das eine Phase war, dann dauerte sie verflixt lange. Schon sein ganzes Leben lang.
Wahrscheinlich stimmte irgendwas mit ihm nicht.
»Liest du eigentlich nur solche alten Abenteuerromane?«, fragte Gham’bia. »Sonst nichts? Vielleicht ist das ein bisschen einseitige Kost.«
Tonak dachte nach. Plagte ihn diese Sehnsucht, weil er so viele dieser Bücher las, oder las er so viele dieser Bücher, weil ihn diese Sehnsucht plagte – woher auch immer sie kommen mochte?
»Ich lese ziemlich viel, das stimmt«, gab er zu. »Und meistens Abenteuerromane. Manchmal auch Zukunftsromane.«
»Zukunftsromane?«, wunderte sich Gham’bia. »Was ist denn das?«
»Das sind Erzählungen, wie sich die Leute früher ihre Zukunft vorstellten – also unsere Zeit heute. Fast alle waren davon überzeugt, dass wir über eine weit entwickelte Raumfahrt verfügen würden. Ich habe viele Romane gelesen, die beschreiben, wie Menschen der Zukunft mit Raumschiffen in die Tiefen des Weltraums vorstoßen, ferne Planeten erkunden und fremden Lebewesen begegnen.«
»So ein Unsinn. Was hätten wir denn davon?«
»Muss man denn immer etwas davon haben?« Tonak zeigte hinauf zum Nachthimmel, dessen funkelnde Sterne ihn auszulachen schienen. »Irgendwo dort draußen ist der Mars, mit seinen endlosen roten Staubwüsten. Der Saturn, mit seinen grandiosen Ringen. Und unermesslich viele weitere Wunder, von denen wir nicht einmal wissen. Wozu das alles, wenn niemals jemand dort oben stehen und das alles sehen soll?«
»Raumfahrt würde die Atmosphäre verschmutzen, und irgendwelche Raketen, die durchs All fliegen, kann man nicht mehr recyclen«, erklärte Gham’bia. »Meine Mutter hat mir das genau erklärt; sie sitzt schließlich auch im Forschungskontrollausschuss der Vereinten Nationen. Wir können uns keine Raumfahrt leisten, nur weil jemand die Ringe des Saturn sehen will.«
»Aber wozu sind wir denn geschaffen, wenn nicht, um alles anzuschauen, was es gibt?«
»Wir sind nicht geschaffen, wir sind entstanden. Und zufällig sind auch die Ringe des Saturn entstanden. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Und wenn jemand den Saturn anschauen will, soll er ein Teleskop benutzen.«
Tonak wusste nicht,
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