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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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diesen Zugang verwendete, um in die verschiedensten Systeme einzudringen, und das im Stande war, sich über das Internet fortzupflanzen.
    Die Weihnachtsferien kamen und damit eine Zeit, in der er endlich durcharbeiten konnte, ohne permanent durch Schule, Tests und ähnliche lästige Dinge unterbrochen zu werden. Mit rotgeränderten Augen hockte er bis in die Morgenstunden vor den Bildschirmen seiner Computer, programmierte, testete, installierte neu, was durcheinandergekommen war, programmierte um und testete abermals. Kurz vor Weihnachten hatte er herausgefunden, wie er die gängigsten Antivirenprogramme täuschen konnte, zumindest einige von ihnen und zumindest einige Zeit. Er ließ sich am Weihnachtsbaum seiner Eltern blicken, freute sich pflichtschuldigst über die beiden Hemden, die ihm seine Mutter, und den Rasierapparat, den ihm sein Vater schenkte – ein Wink mit dem Zaunpfahl, oder was? –, und verschwand so früh wie möglich wieder. Während draußen Silvesterraketen böllerten, brachte er drinnen sein Testnetzwerk zum Durchdrehen. Und kurz vor Ende der Ferien war er fertig. Eine kleine, blaue Diskette enthielt ein kleines, absolut harmlos aussehendes, absolut unaufhaltsames Programm.
    Falls er sich nicht verkalkuliert hatte, hieß das.
    Die geeignete Stelle, um den Virus zu starten, hatte er schon ausgespäht: die Stadtbücherei im Nachbarstadtteil, wo man gegen geringe Gebühr und ohne dass jemand einen Ausweis sehen wollte einen Internet-PC benutzen konnte, der in einem stillen Eck stand und dessen Diskettenlaufwerk nicht abgesperrt war. Er sah auf die Uhr. Anderthalb Stunden noch, bis die schlossen. Seine Hand zitterte. Kein Wunder, er hatte die letzten Tage praktisch nicht geschlafen und sich nur von Schokomüsli, Cola und Weihnachtskeksen ernährt. Absoluter Tunnelblick. Er schob die Diskette in die Tasche seines neuen Hemdes. Raus damit, und dann nur noch schlafen, schlafen, schlafen.
    Es klappte wie im Traum. Er kam hin, und der PC war frei. An der Ausleihtheke eine Aushilfskraft, die nur nickte, nicht mal Geld wollte. Diskette rein, Internetverbindung aufbauen, ab damit. Diskette raus und gehen, ohne dass jemand aufsah.
    Es wurde dunkel, als er aus der Bücherei ins Freie trat, eine kühle, gläserne Dämmerung, die sich sanft und unnachgiebig auf die Welt herabsenkte. Die Zweige der Bäume glommen silbern, und die Leute hatten Dampfwolken vor dem Mund. Vor ihm ging eine Frau, die per Handy jemandem zu erklären versuchte, welche Packung er aus der Tiefkühltruhe nehmen und was er damit machen sollte. »Ach, komm, lass es«, rief sie irgendwann entnervt. »Lass es. Ich bin in zwanzig Minuten zu Hause und –«
    Sie brach ab, nahm ihr Handy vom Ohr, betrachtete entgeistert das Display, versuchte es nochmal. »Peter?« Keine Antwort, wie es aussah.
    Es war, als packe ihn eine kalte Faust ganz tief unten in seinem Bauch, als Fabian begriff, was geschehen war. Amaryllis Weber war in der Woche nach Silvester mit ihren Eltern zum Skifahren nach Österreich gefahren. Der Freitag sollte der letzte Tag sein, und die Abfahrt kurz vor Sonnenuntergang die letzte Abfahrt des Urlaubs. Die Piste war, wie das ganze Skigebiet, mit modernen Signalanlagen ausgestattet, die vor Lawinen warnten und anzeigten, welche Routen wie stark befahren waren. Amaryllis war auf der Route, die in den letzten Tagen zu ihrer Lieblingsstrecke geworden war, als das Signalsystem plötzlich verrückt spielte. Irritiert von den sich widersprechenden Anzeigen kam ein Pulk älterer Skifahrer ins Straucheln, ein Mann stürzte und überfuhr Amaryllis, wobei ein scharfes Teil seiner Skibindung ihr den Oberschenkel aufschlitzte. Sie spürte einen jähen, scharfen Schmerz, und im nächsten Moment sah sie nur noch den sich verdunkelnden Himmel und wunderte sich, warum ihre Handschuhe eine andere Farbe hatten.
    Der Mann rappelte sich aus dem Schnee auf, sah, was er angerichtet hatte, und schrie in einem fort: »O Gott, o Gott!« Ein junger Mann, der den Unfall mitbekommen hatte, zückte sein Handy, doch das fand – ungewöhnlich für ein Skigebiet – kein Netz. »Ich fahre runter und sage der Rettungswacht Bescheid«, versprach er, nachdem er mit wenig Erfolg versucht hatte, die Blutung durch Abbinden des Oberschenkels mit seinem Schal einzudämmen.
    Er glitt knirschend davon. Der Himmel nahm die Farbe grauen Stahls an. Der Schnee rings um Amaryllis Bein färbte sich blutrot.
     
    Auf der Heimfahrt blickte Fabian aus dem Bus heraus in hell

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