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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Kugelschreiber weg und nickte.
    »Warum hast du nichts gesagt?«, fragte Lily.
    »Warum hätte ich etwas sagen sollen? Du kannst doch selbst lesen.«
    Sie faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. An ihren Bewegungen konnte er ablesen, dass sie gereizt war. Dann kniete sie sich neben die Wippe und streichelte Margretes Wange.
    »Es könnte doch derselbe Täter gewesen sein«, meinte sie. »Ganz bestimmt ist es derselbe.«
    Karsten Sundelin griff wieder nach dem Kugelschreiber und trug ein Wort in das Rätsel ein.
    »Kann schon sein«, sagte er. »Es wird ja über nichts anders geredet. Aber das Gerede hilft nun mal nichts.«
    Erneut ergriff etwas Fremdes Besitz von ihm. Es war eine Kraft, die aus der Tiefe seines Wesens emporstieg und ihm das Atmen erschwerte. Als wüchse in ihm ein neuer Karsten Sundelin heran, ein Karsten, der bisher in ihm geschlummert hatte und jetzt hinaus wollte.
    Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt, dachte er. Das war ein altes Sprichwort. Warum sollte es heute nicht mehr gelten? Warum sollte der Staat die Tat an ihnen rächen? Warum hatten die Verurteilten so viele Rechte? Warum hatten sie das Recht, Respekt und Verständnis zu fordern? Hatten sie sich nicht so schlecht benommen, dass ihnen diese Rechte aberkannt werden müssten?
    »In seinem Leben muss etwas Schreckliches passiert sein«, meinte Lily. »Wenn er so etwas tut.«
    »In jedem Leben passiert etwas Schreckliches«, sagte Karsten.
    Er stand auf und ging zur Wippe, nahm das Kind heraus und drückte es an sich. Er spürte die warmen Lippen seiner Tochter an seinem Hals, und ihr Geruch machte ihn ganz wirr im Kopf. Manchmal kamen ihm die Tränen, denn Margrete war ein kleines Wunder. Margrete war seine Zukunft, sie war die Hoffnung und das Licht. Sie war die letzte Ziffer vom Code zu einem Tresor in seinem Inneren, und er hatte endlich Zugang zu seinem wahren Ich gefunden.
    Er hatte einen Krieger gefunden.
    Er legte Margrete vorsichtig zurück und machte sich erneut an sein Kreuzworträtsel.
    »Rache ist süß«, sagte Lily plötzlich.
    »Ja, so heißt es«, sagte Karsten. »Ich habe mich noch nie an irgendjemandem gerächt, aber es stimmt wahrscheinlich.«
    »Aber warum süß?«, fragte sie. »Ist das nicht ein seltsamer Ausdruck?«
    »Es hat vielleicht mit den Hormonen zu tun«, meinte Karsten, »die einen überschwemmen, wenn man sich endlich rächen darf. Oder so. Ich weiß es nicht, ich kenne mich mit sowas nicht aus.«
    Er legte die Hände in den Nacken und streckte seine langen Beine aus.
    Lily konnte sehen, dass er über etwas nachdachte, denn seine grünen Augen wurden schmal. Liebe ich ihn eigentlich?, die Frage schoss ihr durch den Kopf und verwirrte sie. Natürlich, ich muss ihn doch lieben, wir gehören doch zusammen. Für immer.
    »Wenn du einen Hund zurechtweist«, sagte Karsten, »dann tust du das sofort. Der Hund schnappt sich eine Frikadelle vom Tisch und du gibst ihm eins auf die Schnauze. Das muss blitzschnell gehen. Wenn er nicht innerhalb von drei Sekunden bestraft wird, dann kann er den Zusammenhang zwischen der Frikadelle und der schlagenden Hand nicht erkennen.«
    »Warum redest du jetzt über Hunde?«, fragte Lily.
    Er zögerte. Überlegte sich jedes Wort genau.
    »Unser System ist vielleicht gerecht«, sagte er. »Aber es ist zu langsam. Und was zu langsam ist, ist natürlich nicht effektiv, hat keinen Effekt. Irgendein Trottel begeht ein Verbrechen. Nach einer Weile wird er in Untersuchungshaft gesteckt und dann wartet er monatelang auf seine Verhandlung. Dann ist es endlich so weit und der Trottel wird verurteilt, aber dann will er natürlich in Berufung gehen. Und wenn er dann erneut verurteilt wird, legt er wieder Berufung ein. Und wird wieder verurteilt. Und muss abermals warten, denn nirgendwo ist eine Zelle frei. Wie soll der Idiot denn da noch einen Zusammenhang erkennen?«
    Karsten fuchtelte wild mit den Händen.
    »Legt dem Kerl am Montag Handschellen an, verurteilt ihn am Dienstag und steckt ihn am Mittwoch in die Zelle«, sagte er. »Dann klaut er keine Frikadellen mehr.«
    Er schlug mit der Faust auf den Tisch, um den Ernst seiner Aussage zu betonen.
    »So geht das aber nicht«, wandte Lily ein. »Wir leben nicht in einer Idealgesellschaft. Und wir sind auch keine Hunde«, fügte sie hinzu und sah ihren Mann vielsagend an.
    Sie hob Margrete aus der Wippe und legte sie in ihren Schoß.
    »Die Kriminellen verfügen auch über ein gewisses Maß an mentaler Kapazität«, meinte sie.

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