Eine undankbare Frau
»Natürlich sehen die den Zusammenhang. Das Wichtigste ist doch, dass die Tat Konsequenzen hat. Außerdem klebt das Verbrechen ein Leben lang an ihnen. Sie sind vorbestraft. Sie gehen beschmutzt durchs Leben«, sagte sie mit dramatischer Stimme.
»Mentale Kapazität?«
Karsten Sundelin schnaubte.
»Glaubst du, der Idiot, der hier im Garten war, besitzt mentale Kapazität?«
»Ja«, sagte Lily, »das glaube ich. Vielleicht ist er sogar hochintelligent. Deshalb habe ich doch auch solche Angst«, sagte sie. »Gerade, weil er so gerissen ist.«
»Aber du sollst keine Angst haben«, rief Karsten. »Du sollst wütend sein.«
Wieder knallte er die Faust auf den Tisch.
Lily schloss die Augen. Sie war noch nie wütend gewesen. Dieses Gefühl konnte sie einfach nicht mobilisieren. Etwas konnte zwar tief in ihr schwelen, aber sobald es an die Oberfläche stieg, schlug es um und es kamen nur hilflose Tränen. Sie war ein hoffnungsloser Fall, sie konnte nicht schreien und um sich schlagen, konnte nicht toben, wie andere es taten, wenn ihnen ein Unrecht zugefügt wurde. Sie verkroch sich nur in eine Ecke und leckte ihre Wunden. Ich bin ein Opfer, dachte sie. Ich würde auf eigenen Beinen zur Schlachtbank gehen, wenn das von mir verlangt würde.
»Ja, ja«, sagte sie laut. »Man darf denken, was man will. Das Wichtigste muss doch sein, dass wir bessere Menschen sind als er. Und das demonstrieren wir, indem wir die Sache den Behörden überlassen.«
»Aber die machen doch kaum was«, sagte Karsten.
Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an.
»Was sollen wir machen, wenn sie ihn nicht finden?«
Lily wiegte das Kind auf ihrem Schoß hin und her.
»Dann können wir rein gar nichts machen.«
H annes und Wilma Bosch lebten seit fünfzehn Jahren in Norwegen und hatten soeben an der Straße nach Saga ein großes Holzhaus gebaut. Vorn gab es eine überdachte Veranda, auf der eine Hollywoodschaukel mit geblümten Kissen stand. Auf der Hollywoodschaukel saß der kleine Theo. Theodor Bosch war gerade acht geworden, und einer seiner großen Helden war der Transformer Optimus Prime, von dem er ein Modell hatte. Ein Roboter, der sich mit einigen wenigen Handgriffen in ein Auto verwandeln ließ. Der zweite große Held in seinem Leben war der Abenteurer Lars Monsen. Theo hatte Lars Monsen überall, auf DVD , über dem Bett als Poster und im Bücherregal, und in seinem Zimmer stand sogar eine riesige Pappfigur von Lars Monsen. Die war lebensgroß, er hatte sie sich in der Buchhandlung in Kirkeby erbettelt, und eigenhändig unter dem Arm nach Hause getragen, die lange Rolltreppe hinunter bis zum Auto seines Vaters. Wenn er morgens die Augen aufschlug, sah er als Erstes den berühmten Abenteurer Lars Monsen mit seiner wilden Mähne und den schmalen Augen. Nachts träumte Theo davon, dass er auch so eine Angelrute wie Lars Monsen hätte, genauso ein Zelt und so ein Kanu. Er träumte davon, dass er über Flüsse und durch Seen paddelte, mit dem Gewehr über der Schulter und dem Messer im Gürtel. Dass er über vereiste Seen wanderte und sich die Hände am Lagerfeuer wärmte, dass er über den Flammen Forellen briet. Dass er mit scharfen Waldläuferzähnen dem gebratenen Fisch das Fleisch von den Gräten riss.
Aber Theo war ein schmächtiger Achtjähriger und hatte es noch weit bis in die Welt der Erwachsenen und dem Leben in der Wildnis. Aber träumen, das konnte er gut. Seine Phantasie kannte keine Grenzen und manchmal brachte sie ihn an seltsame Orte. Während er geborgen zwischen den Kissen der Hollywoodschaukel saß. Er schaukelte hin und her. Er trug khakifarbene Shorts, seine Knie waren rund und weiß, wie frischgeschälte Kartoffeln. Seine Mutter Wilma war in der Küche mit dem Essen beschäftigt. Ihr Körper war kräftig und groß und verhieß grenzenlose Geborgenheit. Wilma Bosch war so solide wie die große Eichenkommode im Wohnzimmer, wie die Anrichte in der Küche, wie das Holz der Wände.
Der Ansicht war zumindest ihr Mann, Hannes Bosch.
Er stand in der Tür und sah ihr bei der Arbeit zu, und wenn er den Kopf drehte, sah er einen blonden Sohn auf der Hollywoodschaukel. Die Nachmittagssonne knallte vom Himmel und auf die Holzwände. Er liebte das Rauschen des großen Waldes hinterm Haus, die kräftige blonde Frau am Herd und den Sohn mit den dünnen Beinen. Er freute sich über dieses frische saubere Land, in dem sie wohnten, mit seinen grünen Tannen. Hier sollte Theo aufwachsen. Er sollte durch die großen Wälder
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