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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Hannes. »Hast du darüber schon einmal nachgedacht? Essen und Wasser. Sonne und Wärme. Wir können hier im Wald wohnen und arbeiten, jagen. Holz fällen und Häuser bauen. Das haben die Leute früher gemacht. Was muss das für ein schönes Leben gewesen sein. Aufwachen, wenn es hell wird, und einschlafen, wenn es dunkel wird. Umgeben von den vielen Geräuschen der Vögel und anderer Tiere.«
    Theo nickte. Die Worte des Vaters führten ihn in eine verzauberte Welt.
    Dann schnitzte Hannes auch für sich einen Wanderstab, der aber länger und dicker war. Sie kehrten zurück auf den Waldweg und sahen jetzt aus wie zwei Hirten. Theo konnte sich nicht beherrschen, er hüpfte und tanzte herum, sein Blick fest auf den Rücken seines Vaters geheftet. Nach fünfzehn Minuten kamen sie an eine Kreuzung. Dort stand ein Schild mit mehreren Übersichtskarten und eine Mitteilung der Gemeinde:
    DER WALD IST DIE FUTTERSTÄTTE DER TIERE
    DER WALD IST DER ARBEITSPLATZ DER FORSTARBEITER, DER JÄGER UND DER FISCHER
    DER WALD BIETET ERHOLUNG UND ABENTEUER
    GEHT RÜCKSICHTSVOLL DAMIT UM
    Theo las diese Anweisungen mit klarer, feierlicher Stimme. Vater und Sohn wechselten einen Blick und nickten sich zu, dann wanderten sie weiter. Nach einer Weile kamen sie an der St. Olavsquelle vorbei und tranken beide von dem frischen Wasser. Danach brauchten sie noch vierzig Minuten bis zum Snellevann. Sie setzten sich auf einen Felsen und sahen über den See. Hannes legte Theo einen Arm um die Schulter und zog ihn an sich.
    »Wir haben Glück, du und ich«, sagte er.
    Theo war ganz seiner Meinung. Er spürte seinen starken Vater neben sich und hörte die Flüstergeräusche des großen Waldes und der Lebewesen, die sie umgaben.
    »Ich habe uns etwas zu trinken mitgenommen«, sagte Hannes. »Sieh mal.«
    Er wühlte in seinem kleinen Rucksack.
    »Du hast die Wahl zwischen Solo und Sprite.«
    Theo entschied sich für Solo. Er hielt die Flasche an den Mund und trank, und die Kohlensäure trieb ihm Tränen in seine blauen Kinderaugen.
    Hannes kramte sein Fernglas hervor. Er hielt es vor die Augen und sah eine ganze Weile hindurch, bewegte es langsam über den See hin und her und nahm sich schließlich die Hügel dahinter vor.
    »Siehst du was?«, fragte Theo.
    »Schafe«, berichtete Hannes. »An den Hängen. Willst du mal probieren?«
    Er reichte Theo das Fernglas, und der Junge versuchte, die Schafe zu finden, aber das dauerte. Das Bild tanzte vor seinen Augen auf und ab, ihm wurde ganz schwindlig davon. Zuerst sah er nur Gebüsch und eine Mauer, und auch die Mauer hüpfte und tanzte, denn er konnte das Fernglas nicht still halten. Doch plötzlich hatte er sie gefunden, als wären sie ihm in den Schoß gefallen.
    »Ist das Bild scharf?«, fragte Hannes. »Siehst du sie deutlich?«
    Theo nickte. »Die fressen«, sagte er.
    Hannes nickte. »Die fressen den ganzen Tag. Das tun Kühe auch. Was für ein Leben. Manche haben es eben einfach gut.«
    Theos Arme wurden müde davon, das Fernglas hochzuhalten, aber er wollte es noch nicht hergeben. Er wollte auch nicht nach Hause gehen, er wollte für immer hier mit seinem Vater sitzen, auf dem warmen Felsen am Snellevann, das Fernglas vor den Augen.
    »Mama ist jetzt bestimmt mit dem Abwasch fertig«, sagte Hannes.
    »Und hat sich in die Hollywoodschaukel gelegt«, sagte Theo.
    »Und schnarcht so laut, dass die kleinen Vögel entsetzt wegfliegen«, sagte Hannes.
    Sie kicherten und lachten eine ganze Weile über Wilma, die sie so liebten. Dann hob Theo das Fernglas erneut hoch. Die Schafe lagen wie weiße Wattebäusche auf dem grünen Hang. Er entdeckte auch eine alte, baufällige Scheune, und ganz am Rand seines Blickfeldes auf der rechten Seite ein paar rote Kühe.
    »Mit dem einen Schaf stimmt was nicht«, berichtete er.
    Hannes wartete auf eine genauere Erklärung.
    »Das ist anders«, sagte Theo.
    »Ist es schwarz?«, fragte Hannes. Theo schüttelte den Kopf. »Nein. Eher orange.«
    »Jetzt hör aber auf. Orange, meine Güte. Du siehst zu viele Videos.«
    Hannes riss das Fernglas an sich. Aber auch er sah zwischen den vielen weißen Schafen ein apfelsinengelbes. Es wanderte gelassen umher und hatte offenbar keine Ahnung von seiner schreienden Andersartigkeit. Der Anblick war so ungewöhnlich, dass Hannes nicht aufhören konnte, es anzustarren.
    »Das glaub ich einfach nicht«, sagte er. »Was in aller Welt haben die mit dem Schaf gemacht? Das sieht doch aus wie eine Apfelsine auf vier Beinen!«
    Hannes’ Lachen

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