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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Zum Schluss hatte er dann noch mit Lily Sundelin telefoniert. Sie erinnerte sich an ein Detail aus dem Krankenhaus. An einen Jungen mit einem Arm in der Schlinge, der auf dem Gang auf und ab gelaufen war und sie ungeniert angestarrt hatte. Das alles zusammen ergab ein Bild der Person, die für die Anschläge der letzten Zeit verantwortlich war. Ein junger schmächtiger Mann oder Junge, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, mit halblangen dunklen Haaren und dunklen Augen, mit Jeans und knöchelhohen Schuhen bekleidet. Er fuhr ein Moped oder vielleicht ein leichtes Motorrad, das allem Anschein nach rot war. So auch sein Helm. Er hatte ein freundliches und vorsichtiges Wesen, was ihm das Vertrauen der Menschen verschaffte. Sie glaubten ihm. Asymmetrische Ausfälle, dachte er und griff sich an den Kopf. Diese verdammten Schwindelanfälle. Als ob ihm jemand in die Kniekehlen trat und seine Beine nachgaben. Nein, das sind keine Lähmungserscheinungen, die Ursache sitzt im Kopf. Als ob das besser wäre. Er versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen, als er so im Halbdunkel saß, aber die Ruhe war ihm abhanden gekommen. Er lehnte den Kopf gegen den Stuhlrücken und schloss die Augen. Jetzt beginnt die Hölle auf Erden, dachte er. In bin jetzt in einem Alter, in dem man beginnt, an den Tod zu denken. Und genau das will er erreichen mit seinem bösen Spiel.
    Mein Herz arbeitet schon seit so vielen Jahren hart und fleißig, jetzt beginnt der Countdown.
    Jedem Menschen stehen doch nur eine bestimmte Anzahl von Herzschlägen zu.
    Weiß Gott, was er als nächstes ausheckt.
    D as Zentralkrankenhaus war ein Hochhaus mit dreizehn Stockwerken. Das Gebäude war 1964 errichtet und später um zwei Flügel erweitert worden. Wenn man den Haupteingang passiert hatte, kam man zuerst zu einem Informationsschalter, einer breiten geschwungenen Konstruktion aus hellem Holz. Neben dem Schalter standen mehrere kleine, mit blauem Stoff bezogene Sitzbänke. Hier konnte man warten, wenn man zum Beispiel jemanden zur Untersuchung oder Behandlung begleitet hatte. Es gab außerdem eine große Cafeteria, einen Kiosk und einen kleinen Blumenladen. Und in der hintersten Ecke hatte auch die Apotheke eine Filiale eingerichtet. Die hohe Decke war mit einer schwindelerregenden Menge von kleinen Birnen versehen, die alles in ein helles Licht badete. Am Schalter wimmelte es immer vor Menschen. Die Luft war erfüllt vom Stimmgewirr, vom Klirren der Kaffeetassen und Gläser und von dem nie verstummenden Geräusch der vielen Fahrstühle. Ab und zu klingelte ein Telefon. Auch die Eingangstür steuerte ein Brummen bei, wenn sie sich gleitend öffnete oder schloss. An der Information arbeiteten vier Personen in Schichten. An diesem Tag war die älteste von ihnen, Solveig Grøner, dafür zuständig, den Besuchern zu helfen. Sie war schon eine Weile mit einem Stapel von Papieren beschäftigt, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte und sie aufschauen ließ. Die doppelte Glastür dröhnte. Eine Frau kam hereingestürzt. Sie wirkte total erschöpft, als sei sie den ganzen Weg vom Parkplatz gerannt. Solveig Grøner ließ alles fallen. Die Frau war um die vierzig. Ihr dichtes Haar war dunkel und im Nacken zusammengebunden. Und obwohl sie hohe Schuhe trug, stand sie in Rekordzeit vor dem Schalter.
    »Evelyn Mold«, stieß sie hervor und rang nach Atem.
    Sie sprach den Namen »Evelyn Mold« aus, als müsste jetzt alles Mögliche geschehen und als wüsste Solveig Grøner dadurch augenblicklich Bescheid. Leute würden herbeigeeilt kommen. Glocken würden läuten. Aber nichts dergleichen geschah. Die Frau legte ihre weißen Hände auf den hellen Holztresen. Dabei stieß sie eine Schachtel mit Büroklammern um, schien das aber nicht zu bemerken.
    »Evelyn Mold«, wiederholte sie, dieses Mal ein wenig lauter.
    Solveig Grøner blieb ruhig. Sie hatte in den vergangenen Jahren im Krankenhaus schon fast alles erlebt, außerdem durfte ihr kein Fehler unterlaufen. Nicht hier, in diesem Gebäude, das von Krankheit und Tod erfüllt war.
    »Mold?«, fragte sie freundlich. »Wollen Sie jemanden besuchen?«
    Die Frau nickte. Sie griff sich an den Hals. Ihre Wangen waren nicht mehr rot, sie wurde blass.
    »Ich bin das«, keuchte sie »Evelyn Mold. Das bin ich.«
    Solveig Grøner begriff nicht, was die Frau wollte. Sie beugte sich vor und senkte die Stimme, denn sie hatte bemerkt, dass einer der Besucher auf einer der blauen Bänke den Vorgang beobachtete. Hier war Diskretion angesagt. Damit nahm sie

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