Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
Vom Netzwerk:
dass sie sofort kommen müsse. Sie hatte um mehr Details gebeten. Wie es um Francis stand. Doch da hatte man ihr mitgeteilt, dass man am Telefon keine weiteren Auskünfte geben dürfe.
    »Aber ist es ernst?«, hatte sie gefragt.
    »Ja«, hatte die Stimme geantwortet. »Es ist ernst. Sie müssen sofort herkommen.«
    Sie schwankte wie eine Kranke und klammerte sich an den Tresen.
    »Ich ruf da gleich mal an«, sagte Solveig Grøner. »Wie ist ihr vollständiger Name?«
    »Francis Emilie Mold. ´93 geboren. Sie ist sechzehn.«
    Nachdem sie das gesagt hatte, brach sie zusammen. Sie wartete auf das Todesurteil. Sie fühlte sich, als hinge sie an einem Haken, ohne Kontakt zum Fußboden. Solveig Grøner rief im Rikshospital an, stellte sich vor und bat um die zuständige Leitung der Notaufnahme. Sie griff nach einem Kugelschreiber, klammerte sich gewissermaßen daran fest. Die ganze Situation war furchtbar unangenehm, befremdend. Sie konnte sonst gut mit Katastrophen umgehen, aber hier stimmte etwas nicht. Ihre Kollegen im anderen Krankenhaus bestätigten ihre Befürchtungen. Sie bedankte sich und legte auf. Dann sah sie Evelyn Mold eindringlich an. Nahm ihren ganzen Mut zusammen.
    »Hat Ihre Tochter ein Handy?«, flüsterte sie.
    Evelyn konnte kaum antworten.
    »Sie haben gesagt, es sei ernst«, stammelte sie. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
    Solveig Grøner wusste, dass sie ein Risiko einging, aber ihr blieb nichts anderes übrig.
    »Ich schlage vor, Sie versuchen, Ihre Tochter anzurufen«, sagte sie. »Und zwar jetzt sofort.«
    »Aber wozu soll das gut sein?«
    »Wenn Sie hier nicht ist und auch nicht im Rikshospital, dann müssen wir etwas anderes versuchen.«
    Sie beugte sich über den Tresen vor und sah Evelyn in die Augen.
    »Sie wissen doch. In letzter Zeit sind so viele seltsame Dinge passiert. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    Evelyn Mold benötigte eine Weile, um das Gesagte zu begreifen. Ihr Gehirn hatte alle Türen verschlossen, nur die Kammer des Schreckens stand offen. Sie holte ihr Mobiltelefon hervor. Ihr Blick wanderte unwillkürlich zur Decke hoch und betrachtete die Hunderte von Lichtpunkten. Sie wusste, dass es Lampen waren, aber jetzt leuchteten sie wie Sterne. Sie hörte wieder das Rascheln der Zeitung, wie eine Zustimmung.
    »Viele seltsame Dinge?«, wiederholte sie flüsternd und starrte Solveig Grøner an.
    »Sie haben doch von dem gehört, der den Leuten diese furchtbaren Streiche spielt«, sagte Solveig. »Über den alle reden, der falsche Anzeigen aufgibt und falsche Nachrichten übermittelt.«
    Evelyn wählte die Nummer ihrer Tochter. Und während sie auf Antwort wartete, hob sie den Blick zu den Sternen unter der Decke.
    Sie kamen ungefähr gleichzeitig nach Hause.
    Evelyn sah das Mofa, als sie vor dem Haus vorfuhr.
    Sie sprachen nicht viel, sie waren in einen fremden Raum geschoben worden und suchten jetzt verzweifelt nach einer Möglichkeit, von dort zu fliehen, zurück zu dem, was ihnen vertraut und bekannt war. Der sichere Alltag mit Sonnenschein, der durch die Fenster fiel, und das Vogelzwitschern in den Bäumen hinter dem Haus. Das Geräusch des Fernsehers in der Ecke. Und ihre Gespräche, die ihnen immer leicht gefallen waren, Gespräche voller Scherze, voller Liebe und Lachen. Jetzt waren sie versiegt, und beide fühlten sich unbeholfen, denn sie wussten nicht so recht, wie sie mit dem Erlebten umgehen sollten. Evelyn Mold hatte sich immer für stark und widerstandsfähig gehalten. Für bodenständig und realistisch. Und sie konnte einiges vertragen, zumindest hatte sie das immer von sich gedacht. Sie war mit dem Floß die Sjoa hinunter gepaddelt, ja, es war zwar schon ein paar Jahre her, aber das Abenteuerliche am Wildwasserfahren hatte ihr sehr gefallen. Sie war auch zweimal als junge Frau den Oslo-Marathon gelaufen. Und sie war niemand, der das Leben als eine Selbstverständlichkeit betrachtete. Als Francis ihr Mofa bekam, hatte sich in Evelyn die leise Angst gemeldet, dass Francis eines Tages von einem Auto angefahren werden könnte. Aber sie hatte diesen Gedanken sofort wieder verdrängt. Sie war ein rationaler Mensch. Sie machte sich nicht schon im Voraus Sorgen. Aber dieses Ereignis hatte ganz fremde Seiten in ihr berührt. Kaum hatten sie das Haus betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, brach Evelyn zusammen. Sie fiel auf den Tisch, stemmte die Hände auf die Tischplatte und rang nach Luft. Francis folgte ihr unbeholfen. Aber Mama. Ich bin doch hier,

Weitere Kostenlose Bücher