Eine undankbare Frau
mir geht es gut. Wir denken einfach nicht mehr daran.
Aber Evelyn hatte große Schwierigkeiten, ihren Atem zu beruhigen. Sie hatte noch nie in ihre Abgründe gesehen und das Gefühl war so überwältigend, dass sie sich wie gerädert fühlte. Sie stützte sich auf dem Tisch ab, und dabei fiel ihr ein, dass sie schon einmal so gestanden hatte, vor sechzehn Jahren, als Francis ihre Ankunft angemeldet hatte und sie von heftigen Wehen übermannt wurde.
»Wir sollten was essen«, sagte sie hilflos. Denn etwas anderes fiel ihr nicht ein.
Francis widersprach. Sie zog ihre Mutter am Arm.
»Nein, wir setzen uns einfach aufs Sofa. Und machen den Fernseher an. Wir brauchen gar nichts zu tun.«
Sie setzten sich eng umschlungen aufs Sofa und schwiegen. Nach einer Weile sagte Evelyn mit dünner Stimme, dass es vorbei sei und sie sich beruhigen und einfach alles vergessen müsse. »Aber dadurch ist ein neuer Gedanke geboren worden«, sagte sie unglücklich. »Ich weiß nicht, wie das werden soll, wenn du morgen wieder mit dem Mofa fährst. Verstehst du, was ich damit sagen will, Francis?«
Francis senkte den Kopf. Sie schob ihre Unterlippe vor.
»Soll ich es verkaufen?«
»In nur zwei Jahren kannst du den Führerschein machen«, sagte Evelyn. »Und in einem Auto bist du viel sicherer.«
Später erkundigte sich Sejer bei ihnen, ob über Francis etwas in der Lokalzeitung gestanden habe. Und wenn ja, was? Wie viele persönliche Informationen waren in dem Artikel erwähnt und hatte es ein Foto von ihr gegeben?
Francis Emilie trug einen rosa Trainingsanzug und hatte sich wie ein Kätzchen in der Sofaecke zusammengerollt.
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte sie.
»Wir glauben, dass er sich so seine Opfer aussucht«, sagte Sejer. »Zumindest einige davon. Er blättert die Zeitung durch, findet eine kleine Geschichte, merkt sich Namen und Wohnort. Dann recherchiert er ein bisschen. Hierzulande ist es eine Leichtigkeit, jemanden aufzuspüren.«
Francis holte die Zeitung, denn sie hatte sie sich aufgehoben. Sie kam zurück und zeigte ihm das Foto. Dann sah sie zu ihrer Mutter.
»Das ist vierzehn Tage her«, sagte sie. »Wir waren gerade in einem Laden, um ein Mofa für mich auszusuchen. Da kam ein Mann von der Verkehrsaufsicht. Er wollte einen Artikel über die Verkehrssicherheit schreiben und ich sollte ein paar Fragen beantworten. Am Ende hat er das Foto gemacht. Es ist ein blödes Bild«, fügte sie hinzu. »Ich sehe so dick aus.«
Sejer las den kurzen Artikel. Francis sei gerade sechzehn geworden und das Mofa ein Geschenk ihres Vaters, der im Ausland wohnte. Danach las er die Bildunterschrift.
»Francis Mold aus Kirkeby freut sich darauf, eine Verkehrsteilnehmerin zu werden. Aber sie achtet selbstverständlich auch auf ihre Sicherheit und kauft sich den teuersten Helm. Und ein Verkehrsrowdy wird sie niemals werden, beteuert sie.«
»Sieh an«, sagte Sejer. »Namen und Wohnort sind angegeben, da war es ja nicht weiter schwer, dich ausfindig zu machen. Aber er hat auch euer Haus beobachtet. Er musste ja sicher gehen, dass du mit dem Mofa unterwegs warst, als er hier angerufen hat. Vermutlich hat er von einer Telefonzelle aus angerufen.«
Er musterte die beiden Frauen, die eng nebeneinander auf dem Sofa saßen.
»Als Sie im Krankenhaus an der Information standen«, sagte er. »Können Sie sich erinnern, ob Sie sich beobachtet gefühlt haben?«
Evelyn sah ihn fragend an.
»Im Café saßen ziemlich viele Leute«, sagte sie. »Und am Haupteingang war auch viel los. Aber ich hätte bestimmt gar nicht bemerkt, wenn mich jemand beobachtet hätte, ich war ja total hysterisch. Wenn am Informationsschalter ein Schneemann gestanden hätte, wäre mir das wahrscheinlich auch nicht aufgefallen. Warum fragen Sie eigentlich?«
»Weil er fast immer auftaucht oder von weitem zusieht«, erklärte Sejer. »Hat heute jemand an der Tür geklingelt?«
»Nein, niemand«, sagte sie. »Nur Sie.«
»Dann vermute ich, dass er im Krankenhaus war«, sagte Sejer. »Er hat Ihr Haus beobachtet. Er hat gesehen, wie Francis sich auf das Mofa setzte und losfuhr, und dann ist er ins Krankenhaus gefahren, weil er wusste, dass Sie dorthin kommen würden. Es ist sehr gut möglich, dass er diesen dramatischen Zwischenfall aus nächster Nähe beobachtet hat.«
»Mir fehlen die Worte«, sagte Evelyn.
»Der muss doch total verrückt sein«, sagte Francis.
H enry schlief, als er kam.
Er schlief in seinem abgenutzten Sessel, die Beine auf dem Schemel,
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