Eine undankbare Frau
keine Einzelheiten, keine klaren Erinnerungen, obwohl er doch direkt vor ihr, auf der obersten Treppenstufe gestanden und ihr in die Augen gesehen hatte.
»Sie sagen, es war ein Junge?«, fragte Sejer.
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. Sie war sich ihrer Sache überhaupt nicht mehr sicher. Der schwarze Wagen von Memento hatte sie so aus der Fassung gebracht, dass alles andere aus ihrer Erinnerung gelöscht worden war.
»Er kam mir jung vor«, sagte sie. »Aber mir fällt es schwer, das Alter der Leute zu schätzen. Ich meine, ob er siebzehn war oder fünfundzwanzig.«
»Versuchen Sie es«, bat Sejer. »An irgendetwas werden Sie sich bestimmt noch erinnern.«
»Ich glaube, ich habe ihn gar nicht richtig angesehen«, gab sie zu. »Er war wie ein Schatten. Ich habe auch gar nichts gesagt, ich habe ihm nur die Richtung gezeigt. Das Zentrum liegt gleich da oben, am Ende der Straße.«
»War er mit dem Auto unterwegs?«
Erneut zuckte sie mit den Schultern.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Er stand einfach plötzlich da. Und als ich die Tür zugemacht hatte, habe ich nicht mehr daran gedacht. Ich habe nur noch auf Sie gewartet.«
Helge Landmark hob seinen schweren Kopf.
»Ich konnte zwar überhaupt nichts sehen«, sagte er. »Aber ich habe Ohren. Der Junge, der an unserer Tür geklingelt hat, ist mit dem Moped weitergefahren.«
W as Helge Landmark angetan wurde, führte al- lerorts zu heftigen Diskussionen. War es wirklich möglich, mit einem einzigen Anruf so etwas in die Wege zu leiten? Einen anderen Menschen mit einem einzigen Tastendruck so zu erschrecken und zu demütigen? Ja, das war es. Der Mann, hinter dem sie jetzt her waren, dieser Mann, oder dieser Junge, hatte einfach beim Bestattungsunternehmen angerufen. Und Arnesen hatte ja keinen Grund gehabt, an den Worten dieser höflichen Stimme zu zweifeln. So war die Gesellschaft eben eingerichtet, alles beruhte auf Vertrauen. Aber jetzt drängte sich die Frage auf, ob bestimmte Routinen vielleicht geändert werden müssten, vor allem jene, die Tod und Krankheit betrafen. Und obwohl Helge Landmark sich weigerte, mit den Zeitungen zu reden, kam es den Leuten natürlich zu Ohren, dass er ein Todgeweihter war. Und die Tatsache, dass der Tod ausgerechnet bei ihm auf einen Antrittsbesuch vorbeigekommen war, verschlug den meisten den Atem.
Sejer hatte sich eine Lampe angeschaltet und las einen Bericht über die Krankheit ALS . Die war vor weniger als sechs Monaten bei Helge Landmark diagnostiziert worden. Sie hatte einen sehr schnellen Verlauf und führte zwangsläufig zum Tod.
»Amyotrophische Laterale Sklerose ist eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems im Rückenmark und Gehirn. Die Krankheit ist unheilbar und die Behandlung ausschließlich palliativ.
ALS -Patienten sterben an Versagen der Lungenfunktion aufgrund der Lähmung ihrer Atemmuskulatur. Bei einigen zeigt sich die Krankheit zu Beginn mit Rede- und Schluckbeschwerden. Oder sie setzt asymmetrisch ein, oft mit eingeschränkter Koordination und Schwäche der Hand- und Armmuskulatur.«
Am Ende prägte er sich die Namen einiger bekannter ALS -Patienten ein: Mao Zedong, Stephen Hawking und der norwegische Autor Axel Jensen.
Plötzlich überkam ihn eine panische Angst, sie überfiel ihn hinterrücks. Konnte man seine kleinen Schwindelanfälle bereits als asymmetrische Ausfälle bezeichnen? Diese Vorstellung war so entsetzlich, dass er nach Luft rang. Um die albernen Gedanken zu verdrängen, griff er nach einem Blatt Papier, das neben dem Telefon lag. Darauf hatte er sich Notizen von seinem Telefonat mit Gunilla Mørk gemacht. Sie hatten sich lange und ausgiebig unterhalten. Das wichtigste Detail ihr es Gesprächs war de r polnische Student gewesen, der vor ihrer Tür gestanden und Arbeit gesucht hatte. Sie bemühte sich sehr, sich an Einzelheiten seines Aussehens zu erinnern. Aber sie sei nicht ganz bei sich gewesen, wegen der Anzeige, die sie kurz zuvor gelesen und die sie bis ins Mark erschüttert hatte. Danach hatte er mit Sverre Skarnings junger Frau gesprochen. Sie hatte den Mann, der bei ihr Eier gekauft hatte, sehr gut beschreiben können. Genauer gesagt, den Jungen. Au ch er war mit einem Moped gekommen, oder einem kleinen Motorrad, sie kannte den Unterschied nicht. Sie hatten sich ziemlich lange unterhalten. Er hatte eine freundliche Stimme gehabt, sagte sie, sehr hell und angenehm, außerdem war er so zurückhaltend gewesen, was sie sehr sympathisch gefunden hatte.
Weitere Kostenlose Bücher