Eine undankbare Frau
Sprechen könnte bedeuten, dass sie aus Finnmark stammte. Sie hatte lebhafte, braune Augen und samische Züge und an der linken Hand trug sie einen silbernen Ring, eine Schlange, die sich um ihren Finger wand.
»Wie das wohl wird, wenn er verhaftet wird«, sagte sie. »Wenn die Leute wissen, wer er ist, da muss ich oft dran denken. Dann gibt es hier in Bjerkås Texas und Halligalli.«
»Ganz genau«, sagte Skarre und lächelte. »Texas und Halligalli.«
E s war Mitte September.
Es regnete so kühl und fein, dass es an die Gischt eines Wasserfalls erinnerte. Die Feuchtigkeit verlieh allem einen ganz eigenen Glanz, den Dächern und Fassaden der Stadt und dem blauen Asphalt, den Abfalltonnen und den Fahrradständern. Nach einer Weile brach die Sonne durch. Auch Büsche und Bäume waren mit diesem Glanz versehen, wirkten sauber und erneuert. Sejer war mit Frank spazieren. Er ging leicht und unbeschwert und dachte an seine Kindheit. Er hatte alles bekommen, was für ein Kind wichtig ist und für alle Kinder selbstverständlich sein müsste. Er hatte Geborgenheit erfahren, dieses Fundament, das elementar ist, um im Leben zurechtzukommen. Seine Mutter hatte ihm diese Geborgenheit gegeben. Immer, wenn etwas passiert war, ein Unfall oder eine Krankheit, hatte sie ihn sofort in die Arme genommen und ihm versichert, dass alles gut werden würde. Es wird schon wieder gut, hatte sie gesagt, als er über den Fahrradlenker gestürzt war und sich das Handgelenk gebrochen hatte. Er wird besser, hatte sie gesagt, als sein Hund starb und er die Trauer fast nicht ertragen konnte. Es wird besser, es findet sich, da bin ich mir ganz sicher. Und während sie diese Worte sagte, mit einer Stimme, die warm und sicher war, denn sie war erwachsen und kannte sich in diesen Dingen aus, hatte sie ihn fest in ihren Armen gehalten. Diese Geborgenheit war wie eine Grundmauer in seinem Inneren, auf der sein ganzes Leben ruhte.
Aber andere Kinder erlebten etwas anderes. Sie erlebten ihre Mütter, die ihre Hände vors Gesicht schlugen und jammerten, lieber Gott, was soll nur werden! Und das Jammern erzeugte Angst und die Angst riss den Kindern den Boden unter den Füßen weg. Darum suchten sie ihr Leben lang nach einem Halt. Und deshalb war die Welt voller Kinder, die sich verirrten. Langsam ging er durch die glänzenden Straßen. Nur ab und zu blieb er stehen, damit Frank seine Untersuchungen im Rinnstein anstellen konnte. Er dachte an das weiße Haus im Gamle Møllevej bei Roskilde in Dänemark, wo er aufgewachsen war. An die Kletterrosen an der Wand, die kleinen weißen Hühner, die über den Rasen liefen. Er erinnerte sich daran, wie es war, ein kleiner Junge zu sein, zusammen mit seinem Freund Ole zwischen den Bäumen im Garten zu spielen, saure Johannisbeeren von den Büschen zu pflücken, sie zu essen und Grimassen zu schneiden. Einfach über alles zu lachen und zu kichern. Und dann, am Ende des Tages, ohne Angst nach Haus gehen zu können. Als einzigartig betrachtet und bedingungslos geliebt zu werden. Als wäre schon der kleine Knabe Konrad ein Ereignis an sich, der nach langer Abwesenheit endlich heimkehrte. Aber so ist das Leben nicht für alle, dachte er. Es gibt Kinder, die voller Angst die Tür aufmachen, die sich ducken und durch die Wohnung schleichen, die nicht wissen, was ihnen bevorsteht. Die flüchten, weil das, was sie sehen, nicht zu ertragen ist. Rausch. Beschimpfungen. Gewalt. Oder alles, in einer teuflischen, zerstörerischen Mischung. Er dachte wieder an seinen Jugendfreund Ole. Der war nur ein Gast im Haus seiner Mutter. Nein, ihr könnt nicht drinnen sein, sagte sie, es ist so schönes Wetter. Nein, nicht heute, ich wollte doch gerade saubermachen. Ich habe eine Freundin zu Besuch, ich habe Migräne. Ihr müsst draußen sein. Jetzt geh doch, geh endlich! Und Ole ging. Bei Regen und Sturm und Kälte. Abends schlich er sich ins Haus, holte sich ein Stück Brot und verkroch sich wie ein herrenloser Hund in seinem Bett. In diesem Haus wurde nicht geschlagen und nicht getrunken. Aber es liebte ihn auch niemand. Sejer bückte sich und streichelte Franks Rücken. Manche behaupten, man könne die Mütter nicht für das Elend verantwortlich machen, in das ihre Kinder geraten. Aber er war anderer Ansicht. Man konnte Mütter für sehr viel verantwortlich machen. Das Kind war den Launen der Mutter ausgeliefert, ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung, ihrer Bitterkeit und ihren Schwächen. Und sie waren der Verzweiflung des Vaters
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