Eine undankbare Frau
vorsichtig Lilys Schulter oder ihre Haare, wie er es früher immer getan hatte. Aber er bekam keine Reaktion. Sie drehte den Kopf weg, als ob die Berührung sie ärgerte.
Sie hatte ganz neue Regeln aufgestellt.
Und es fiel ihm schwer, die zu verstehen.
Oft lag er wach da, die Hände hinterm Kopf verschränkt, und stellte sich eine andere Frau und ein anderes Leben vor. Eine starke, selbständige Frau. Eine phantasievolle Frau. Eine, die gern die Beine breit machte. Eine, die gerne lachte, die Bagatellen beiseite schieben konnte, die wieder aufstand, wenn jemand sie zu Boden schlug. Eine, die mal schimpfte und keifte, statt die Tage totzuschweigen. Natürlich könnte er einfach gehen. Natürlich würde er eine solche Frau finden, denn er war attraktiv, hatte breite Schultern, schmale Hüften und lange Beine. Aber er war auch ein anständiger Mann. Die moralischen Bedenken hielten ihn gefangen. Sie verwehrten ihm ein gutes Leben, wo er sich voll und ganz einbringen könnte, jetzt war er zu einem Pfleger für zwei Kranke verkommen. Er musste auf Zehenspitzen gehen, immer bereit sein, losstürzen, wenn eine von ihnen losjammerte. Diese bösen Gedanken wirbelten durch seinen Kopf und hielten ihn wach. Sie nahmen ihm die Kraft. Sie führten zu einer Mischung aus Selbstverachtung und Wut und einem ständigen Wechselbad der Gefühle. Er wälzte sich im Bett hin und her. Matratze und Holz gaben unter seinem schweren Körper nach.
»Kannst du nicht still liegen«, sagte Lily dann vorwurfsvoll. »Du weckst Margrete.«
J acob Skarre hatte Feierabend. Es war später Nachmittag, als er seine Wohnungstür aufschloss. Er hatte auf dem Heimweg eingekauft, die Tüten standen auf dem Küchentisch, vollgestopft mit Lebensmitteln. Bei Skarre war nicht viel Platz in der Küche. An der Wand standen allerlei elektrische Geräte. Eine Küchenmaschine von Braun, eine Kaffeemaschine, eine Kaffeemühle, ein Sandwichmaker und ein Toaster. Und eine Salatschleuder aus Plastik, die nicht in den Schrank passte. Er wollte gerade seine Einkäufe einräumen, als das Telefon klingelte.
Er kannte die Nummer nicht.
»Hallo, Jacob«, hörte er. »Hier ist Britt.«
Es war eine frische, fröhliche Mädchenstimme, aber er kannte keine Britt. Skarre war jedoch in einem Pfarrhaus aufgewachsen und seine Erziehung hatte zum großen Teil aus der Ermahnung bestanden, seinen Mitmenschen mild und freundlich zu begegnen.
Immer und in jeder denkbaren Situation.
Immer offen und entgegenkommend sein.
»Guten Tag, Britt«, sagte er. »Womit kann ich behilflich sein?«
Britt zwitscherte wie eine Lerche. Und obwohl er sie nicht sehen konnte, stellte er sich etwas Kleines, Süßes mit viel Schmuck vor. Er zog eine Salatgurke aus der Tüte. Zugleich durchsuchte er seine Erinnerung, ob diese Britt nicht doch schon einmal in seinem Leben aufgetaucht sein könnte, vielleicht an einem späten Abend, nach ein paar Bieren, es ließ sich nicht leugnen, dass er durchaus die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechtes erregte. Mit seinen blonden Locken und seiner guten Kinderstube im Pfarrhaus.
»Er war wieder hier«, sagte Britt. »Und wir glauben, dass er zurückkommt, er hat nämlich seine Handschuhe vergessen.«
Diese Information wurde mit dramatischem Tonfall vorgetragen. Er hörte zwischen den einzelnen Worten ein schmatzendes Geräusch, als ob sie den Mund voller Süßigkeiten hätte, aber Skarre wusste noch immer nicht wovon sie sprach. Er hatte mehr als acht Stunden Dienst gehabt und mit so vielen Menschen über so viele verschiedene Dinge geredet, dass in seinem Kopf ein einziges Chaos herrschte. Er nahm einen Eierkarton aus der Tüte und schob ihn an die Rückwand der Küchenzeile. Er wühlte in seiner Erinnerung.
»Zurückkommt?«, wiederholte er begriffsstutzig.
Er packte einen französischen Brie und eine Tafel Bitterschokolade aus und hörte dabei der kleinen Lerche am anderen Ende der Leitung zu.
»Das sind Motorradhandschuhe«, erklärte Britt. »Sie sind schwarz und haben rote Totenköpfe darauf. So welche habe ich noch nie gesehen. Entweder sind die total proll. Oder total scharf. Ich bin mir da noch nicht sicher. Ich meine, Totenköpfe. Hallo!«
Skarre nahm eine Dose Bier aus der Tüte und stellte sie auf den Tisch. Langsam dämmerte es ihm, wie das erste Morgenlicht.
»Britt?«, fragte er. »Aus dem Supermarkt?«
Er ließ seine Einkäufe stehen, zog einen Stuhl hervor und ließ sich darauf fallen.
»Aus dem Supermarkt am Skarvesjø«, sagte sie.
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