Eine undankbare Frau
Klingelton«, erklärte Hannes. »Aus dem Messias von Händel, glaube ich. Joy to the world. Das kennst du doch, oder?«
Er setzte seinen Weg fort. Wilma ließ ihn nicht aus den Augen.
»Geht er nicht ran?«, fragte sie.
»Ganz ruhig«, sagte Hannes. »Wahrscheinlich hat er das Telefon unten in den Rucksack gelegt. Und du weißt doch, er ist ganz schön ungeschickt, ich kann ihn förmlich vor mir sehen.«
Sie warteten. Hannes lief weiter und lauschte den Klingeltönen.
»Immer noch nichts?«, fragte Wilma erneut.
Sie sprang von der Schaukel auf. Die schwang noch zwei-, dreimal hin und her, dann kam sie zum Stillstand.
»Oder er hat sich das Telefon hinten in die Hosentasche gesteckt«, meinte Hannes. »Und fummelt mit seinen kleinen Händen herum. Oder er ist furchtbar beschäftigt. Ganz ruhig, meine Süße«, grinste er, »wir versuchen es gleich noch einmal.«
S ejer erfuhr es von Skarre.
Der war so aufgeregt, dass seine Stimme versagte. Im Laufe der Jahre hatten sie schon so einiges gesehen. Tote, die im Meer trieben. Menschen, die an Dachbalken hingen. Sie hatten große und kleine Tragödien miterlebt und hatten ihren Weg gefunden, um dennoch die Ruhe zu bewahren. Das hier aber war etwas anderes. Es war entsetzlich.
»Du musst sofort kommen!«
Sejer presste sich das Telefon ans Ohr.
»Was ist denn los?«, fragte er. »Wo bist du?«
Automatisch suchte er in seiner Hosentasche nach den Autoschlüsseln, denn er wusste, dass er sofort losfahren musste. Er hörte Skarre schwer atmen und im Hintergrund leise Stimmen. Und gerade dieses Gemurmel im Hintergrund verhieß nichts Gutes.
»Wo bist du?«, wiederholte er.
»Wir sind draußen bei Bjerkås«, sagte Skarre. »Auf dem Weg nach Saga. Der Weg wird die Schneise genannt. Du musst sofort kommen. Sverre Skarning hat die Schranke geöffnet, d u kannst durchfahre n. Wir sind bei der ersten Weggabelung, d ie heißt die Sch neise. Und da steht ein riesiger Wegweis er aus Holz, mit Lan dkarten und allem. Du kannst uns nicht übersehen«, fügte er hinzu.
»Ja, aber was ist denn los?«, frage Sejer.
»Wir sind uns nicht sicher«, stammelte Skarre. »Wir begreifen noch nicht ganz, was da passiert ist. Aber so ganz unter uns: Hier ist etwas ganz Grauenhaftes vorgefallen.«
»Kannst du bitte ein bisschen deutlicher werden? Was ist da los?«
»Soweit wir das bisher einschätzen können, haben wir die Überreste eines Jungen gefunden.«
Dreißig Minuten später fuhr Sejer durch die Schneise.
Er sah eine Gruppe von Menschen am Ende des Weges, Leute, die aufgeregt durcheinanderliefen. Einige von ihnen hatten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Andere saßen auf Baumstämmen, die am Wegesrand aufgestapelt waren, konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten. Eine Polizistin hatte die Hände vorm Gesicht und weinte. Am Wegesrand standen ein Streifenwagen und ein Krankenwagen. Sejer öffnete langsam die Autotür und stieg aus, sah hoch zu dem großen Wegweiser und der Karte über Wege und Wanderpfade durch das Waldgebiet. Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Er setzte seinen Weg fort, er ging auf eine Gruppe von Technikern zu, es mochten acht oder zehn Frauen und Männer sein. Als sie ihn kommen sahen, wichen sie zur Seite.
Auf dem Waldboden lag eine grüne Plane.
Nur in der Mitte gab es eine bescheidene Erhebung, die vermuten ließ, dass darunter ein sehr kleiner Körper lag.
»Sei gewarnt«, sagte Skarre. »Es ist kein schöner Anblick.«
Das dünne synthetische Material raschelte, als sie die Plane entfernten.
Sejer musste nach Luft schnappen. Vor ihm auf dem Waldboden lag etwas Unbegreifliches. Ein kleiner Junge, hatten sie ihm gesagt, die Überreste eines kleinen Jungen. Aber es war nur ein kleiner Haufen aus Gliedern, eine Hand, ein Fuß, ein blindes, stierendes Auge. Der Körper lag in einer merkwürdigen Haltung da. Sejer sah einen kleinen Rucksack mit einer Schokoladenreklame, der Rucksack war offen und ein Spielzeug war herausgefallen. Knochenreste ragten wie dünne weiße Stöcke aus dem Fleisch, der linke Arm war am Ellbogen abgerissen, Teile des Gesichts fehlten ganz. Ein paar kleine runde Kinderzähne leuchteten im roten Zahnfleisch. Sejers Blick fiel auf ein Stück khakifarbenen Stoff, vielleicht Reste einer Shorts, und einen weißen Turnschuh. Automatisch sah er sich nach dem anderen um, aber der war nirgendwo zu finden. Dasselbe galt auch für den abgerissenen Arm. Er spürte den
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