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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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davon trinke, werde auch ich heilig. Er trank sehr viel von dem heiligen Wasser. Und er fand, dass es gut schmeckte. Manche glaubten, das Wasser besitze heilende Kräfte, und er spürte wie belebend es war.
    Dann ging er weiter. Das heilige Wasser hatte ihm neue Kraft gegeben, da war er sich ganz sicher. Mit offenen Augen und Ohren lief er durch den Wald, aber alles kam ihm still und verschlafen vor. Die Natur ruhte sich aus und achtete nicht auf den kleinen Jungen mit den großen Füßen, der den Waldweg entlanglief. Am See lagen Schafsköttel und Kuhfladen, und er war sehr wachsam, lief im Zickzack und summte ein Lied. Er überlegte, ob er seinen Vater anrufen und ein wenig mit ihm reden sollte, überlegte sich die Sache in letzter Minute aber anders. So ging das nicht, dachte er. Lars Monsen telefonierte auch nicht dauernd, wenn er in der Wildnis unterwegs war. Ha, dachte er und ging schneller. ›Eins, zwei, Polizei, drei, vier, Offizier. Soll die Schlange kommen, ich bin gewappnet hier.‹
    Als er seinen Rhythmus erst einmal gefunden hatte, behielt er ihn auch bei. Er marschierte in schnellem Schritt den Waldweg entlang. Der Rhythmus gab ihm Halt, bestimmte Tempo und Kraft, und seine Gedanken hatten nur das eine Ziel – den See zu erreichen. Es ist ja so leicht, ein Abenteurer zu sein, dachte er, man muss es nur machen. Und die richtige Ausrüstung haben. Er versicherte sich, dass das Messer fest in seinem Gürtel steckte. Dann fuhr er zusammen, denn im Unterholz flog ein Vogel auf. Das kleine Jungenherz war für einen Moment verängstigt, beruhigte sich aber bald wieder.
    Er ging die letzten Meter barfuß.
    Kletterte über die Felsen und zum Wasser hinunter. Suchte sich eine richtig schöne Stelle, rutschte so tief nach unten, dass seine weißen Zehen das Wasser erreichten.
    Das Wasser ist ja verdammt kalt, dachte er, denn das würde sein Papa sagen, wenn er mit den Zehen im Wasser neben ihm säße. Die Turnschuhe standen neben ihm und die Socken lagen darin, wie zwei weiße Wattebälle. Er zog den Rucksack von seinem Rücken und öffnete ihn, legte die drei Brote neben die Schuhe. Daneben wiederum stellte er die Thermoskanne mit dem Johannisbeersaft und daneben dann den schwarzen Transformer. Optimus Prime. Sein Atem ging schnell, denn er war das letzte Stück gelaufen.
    Ich bin in der Wildnis, dachte er, und ich bin ganz schön mutig.
    Unterwegs hatte er einen Zweig von einer kräftigen Weide gebrochen, jetzt nahm er das Messer aus dem Gürtel. Es war nicht so leicht, es aus der Scheide zu ziehen. Wie still alles war. Die kleinste Kleinigkeit wurde dadurch überdeutlich, eine Mücke, die über das Wasser lief, Blätter und Heidekraut die raschelten. Das ist doch wohl keine Schlange, dachte er besorgt und sah sich um, denn jetzt hatte er die Schuhe ausgezogen und seine rosa Zehen waren vielleicht eine verlockende Beute, so rund und marzipanrosa, wie sie waren. Aber niemand störte ihn dort am Wasser. Alles war schön und still. Er schnitzte an seinem Zweig. Das Holz roch so gut. Der ganze Wald ist eigentlich essbar, dachte er, Blätter, Gras, Heidekraut und Rinde und Beeren. Dann hörte er ein Geräusch. Er sprang auf und sah zum Weg hinüber. Das Geräusch kam aus der Ferne und wurde stärker, und ihm war klar, dass es ein Motor war. Ein Traktor, vielleicht. Oder ein Auto. Das Geräusch kam und verschwand wieder, aber seine Phantasie jagte los. Ganz anders als auf der Straße, denn da kamen ja dauernd Autos … Nach einer Weile setzte er sich wieder hin. Er legte den Zweig weg, steckte das Messer in die Scheide und machte sich über seinen Proviant her. Nein, er war ganz allein im Wald. Aber kaum hatte er das gedacht, da hörte er Stimmen. Wahrscheinlich waren das Leute, die eine Radtour durch den Wald machten, und er stand auf, um ihnen hinterher zu sehen. Einer hob die Hand und winkte, und er winkte zurück. Himmel, lächelte Theo zufrieden, hier wimmelt es ja von Leuten.
    Er setzte sich wieder. Er aß die Wurstbrote mit großem Appetit, seine Mutter Wilma hatte das Brot gebacken, und das Allerbeste war die Rinde. Obwohl er nach den ersten beiden Schnitten schon satt war, aß er auch noch die dritte. Wer auf Reisen ist, braucht Kalorien, sagte er sich. Dann zog er das Messer wieder aus der Scheide und schnitzte weiter an dem Zweig. Er durfte sich nicht in den Finger schneiden, sich nicht die Messerspitze in den Oberschenkel bohren. Er wusste genau, wenn das passierte, würde er nie wieder allein losziehen

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