Eine Unheilvolle Liebe
an. Ich spürte wieder den Stromschlag wie vor Monaten, aber die Kälte war immer noch da. Lena wich zur Seite, damit wir uns nicht mehr berührten.
»Und, wie war’s?« Ich versuchte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, als wären wir Fremde.
»Wie war was?«
»Die Englischprüfung?«
»Schätze, ich bin durchgefallen. Ich hab den Text vorher nicht gelesen.« Es war schwer vorstellbar, dass Lena die Unterrichtslektüre nicht gelesen hatte. Als wir Wer die Nachtigall stört durchgenommen hatten, konnte sie immer jede Frage beantworten.
»Echt? Also, bei mir ist es super gelaufen. Ich hab letzte Woche eine Kopie des Tests von Mrs Englishs Schreibtisch geklaut.« Das war gelogen. Schon aus Angst vor Amma wäre ich lieber durchgefallen, als zu betrügen. Aber Lena hörte sowieso nicht zu. Ich wedelte mit der Hand vor ihren Augen. »L? Hallo?« Ich wollte ihr von dem Traum erzählen, aber dazu musste sie mich zuerst einmal zur Kenntnis nehmen.
»Tut mir leid. Mir geht alles Mögliche durch den Kopf.« Sie blickte weg. Es war nicht viel, aber es war mehr, als sie seit Wochen zu mir gesagt hatte.
»Was denn zum Beispiel?«
Sie zögerte. »Ach nichts.«
Nichts Gutes? Oder nichts, worüber du hier reden möchtest?
Sie blieb stehen und sah mich an, aber sie schottete sich gegen mich ab. »Wir ziehen aus Gatlin fort. Wir alle.«
»Was?« Das hatte ich nicht vorausgesehen. Und genau das schien sie auch beabsichtigt zu haben. Sie hielt mich fern, damit ich nicht in ihr Inneres sehen konnte, damit ich nicht mehr spürte, was in ihr vorging, damit ich ihre verborgenen Gefühle nicht mehr empfand. Ich hatte gehofft, sie bräuchte einfach noch etwas Zeit. Ich hatte nicht kapiert, dass sie Zeit ohne mich brauchte.
»Ich wollte es dir eigentlich gar nicht sagen. Es ist ja nur für ein paar Monate.«
»Hat es etwas mit …« Schlagartig überfiel mich Panik.
»Es hat nichts mit ihr zu tun.« Lena blickte zu Boden. »Gramma und Tante Del meinen, wenn ich nicht mehr in Ravenwood bin, denke ich vielleicht weniger daran. Weniger an ihn.«
Wenn ich nicht mehr in deiner Nähe bin . Das war es, was ich heraushörte.
»So funktioniert das nicht, Lena.«
»Was?«
»Du kannst Macon nicht vergessen, indem du wegläufst.«
Beim Klang seines Namens verkrampfte sie sich. »Ach ja? Steht das in deinen schlauen Büchern? Wo bin ich denn gerade? In der fünften Phase? Der sechsten? Wer bietet mehr?«
»Denkst du wirklich so darüber?«
»Wie wär’s mit der ›Lass alles hinter dir und verschwinde, solange du noch kannst‹-Phase? Wann kommt die denn?«
Ich blieb stehen und sah sie an. »Ist es das, was du willst?«
Sie fummelte an ihren Glücksbringern herum, berührte diese Winzigkeiten, die uns noch geblieben waren, Dinge, die wir gemeinsam gesehen und erlebt hatten. Sie verdrehte sie so sehr, dass ich schon fürchtete, die Silberkette würde reißen. »Ich weiß es nicht. Einerseits möchte ich gehen und nie wiederkommen, andererseits kann ich den Gedanken zu gehen nicht ertragen, denn er hat Ravenwood so geliebt und es mir hinterlassen.«
Ist das der einzige Grund?
Ich wartete darauf, dass sie weitersprach – dass sie sagte, sie wollte mich nicht verlassen. Aber sie sprach nicht weiter.
Ich wechselte das Thema. »Vielleicht träumen wir deshalb von dieser Nacht.«
»Wovon sprichst du?« Jetzt hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit.
»Von dem Traum, den wir letzte Nacht hatten. Es ging um deinen Geburtstag. Alles war so wie damals, nur dass mich Sarafine diesmal getötet hat. Es war so realistisch, als sei es wirklich passiert. Und als ich aufgewacht bin, hatte ich das hier …« Ich schob mein T-Shirt hoch.
Lena starrte auf die wulstige Narbe, die sich im Zickzack über meinen Bauch zog, und wurde aschfahl vor Entsetzen. Es war das erste Mal seit Wochen, dass ich eine Gefühlsregung in ihren Augen lesen konnte.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest. Ich habe letzte Nacht nichts geträumt.« Ihr Tonfall und ihr Gesichtsausdruck verrieten mir, dass sie es ernst meinte.
»Seltsam. Meistens träumen wir doch beide.« Ich versuchte, ruhig zu bleiben, aber ich merkte, wie mein Herz ins Stolpern geriet. Schon bevor wir uns kannten, hatten wir die gleichen Träume gehabt. Sie waren auch der Grund, weshalb Macon nachts so häufig in mein Zimmer gekommen war – um das aus meinen Träumen wegzunehmen, was Lena nicht sehen sollte. Laut Macon war die Verbindung zwischen uns beiden so stark, dass Lena meine
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