Eine Unheilvolle Liebe
verstorbene Mutter und ihr verstorbener Onkel, eingefasst in Gold, Platin und anderen kostbaren Metallen, hingen über ihrer Halskette mit den Glücksbringern, versteckt in den Falten von Kleidern, die nicht ihr gehörten.
Mrs English teilte schon die Prüfungsfragen aus und war nicht sonderlich erbaut darüber, dass die halbe Klasse Badesachen unter ihren T-Shirts trug oder ein Strandtuch neben sich liegen hatte. Emily hatte beides.
»Fünf kurze Fragen, zehn Punkte für jede davon; Multiple-Choice-Test fünfundzwanzig Punkte, auf den Aufsatz ebenfalls fünfundzwanzig. Leider kein Boo Radley heute, wir beschäftigen uns mit Dr. Jekyll und Mr Hyde. Es sind noch keine Sommerferien, Herrschaften.« Im Herbst hatten wir Wer die Nachtigall stört gelesen. Ich musste daran denken, wie Lena damals zum ersten Mal in der Klasse aufgetaucht war und ihr eigenes zerfleddertes Buch dabeihatte.
»Boo Radley ist tot, Mrs English. Pfahl durchs Herz.« Keine Ahnung, wer das gesagt hatte, es war eines der Mädchen gewesen, die hinten bei Emily saßen, aber allen war klar, dass sie Macon meinte, der von den Gatlinern hinter vorgehaltener Hand so genannt worden war. Die Bemerkung sollte Lena verletzen, genau wie in alten Zeiten. Ich wartete angespannt, bis das Gekicher verstummte. Ich wartete darauf, dass die Fensterscheibe zersplitterte oder was auch immer, aber nichts passierte. Lena reagierte nicht darauf. Vielleicht hatte sie nicht hingehört, oder es war ihr inzwischen egal, was sie sagten.
»Ich wette, der alte Ravenwood liegt nicht mal auf dem Friedhof. Wahrscheinlich ist sein Sarg leer.« Diesmal war es laut genug, dass sogar Mrs English zu den hinteren Reihen blickte.
»Halt die Klappe, Emily«, zischte ich.
Lena drehte sich um und sah Emily an. Mehr brauchte es nicht – nur einen Blick. Emily schlug den Fragebogen auf, so als hätte sie eine Ahnung, wovon Dr. Jekyll und Mr Hyde handelte. Niemand wollte sich mit Lena anlegen. Sie wollten nur über sie lästern. Jetzt war Lena Boo Radley. Ich fragte mich, was Macon wohl dazu gesagt hätte.
Ich dachte noch darüber nach, als ich hinten im Klassenzimmer einen Schrei hörte.
»Feuer! Hilfe!« Der Fragebogen in Emilys Hand brannte. Sie ließ ihn auf den Linoleumboden fallen und kreischte weiter. Mrs English nahm ihren Pullover, den sie über die Rückenlehne ihres Stuhls gehängt hatte, ging nach hinten und drehte sich so, dass sie das Feuer mit ihrem guten Auge sehen konnte. Drei gezielte Schläge, und das Feuer war aus, zurück blieben nur ein verkohlter und qualmender Testbogen auf einem verkohlten, qualmenden Fußboden.
»Ich schwör’s, es war eine Art Selbstentzündung. Ich hab geschrieben und plötzlich fing es an zu brennen!«, beteuerte Emily.
Mrs English hob ein kleines, schwarz glänzendes Feuerzeug auf, das mitten auf Emilys Tisch lag. »Tatsächlich? Pack deine Sachen zusammen. Das kannst du alles Direktor Harper erklären.«
Emily warf aufgebracht ihre Stifte in ihre Tasche und stürmte zur Tür hinaus, während Mrs English sich wieder vor die Klasse stellte. Als Emily an mir vorbeiging, sah ich, dass in das Feuerzeug eine silberne Mondsichel eingraviert war.
Lena wandte sich wieder ihren Fragen zu und begann zu schreiben. Ich betrachtete das schlabbrige weiße Unterhemd und die Kette, die darüber baumelte. Lena hatte ihre Haare zu einem komischen Knoten hochgesteckt, eine ganz neue Vorliebe, die ich gar nicht von ihr kannte. Ich stieß sie mit meinem Stift an. Sie hörte auf zu schreiben, hob den Kopf und verzog ihren Mund zu einem schiefen Lächeln – zu mehr war sie in letzter Zeit nicht in der Lage.
Ich erwiderte das Lächeln, aber sie sah schon wieder auf ihre Prüfungsfragen, als wären ihr Assonanz und Konsonanz wichtiger als ich. Als täte es ihr weh, mich anzuschauen – oder, noch schlimmer, als wollte sie mich gar nicht mehr anschauen.
Als es klingelte, verwandelte sich die Jackson High in ein Tollhaus. Die Mädchen zogen die Tops aus und liefen in ihren Bikini-Oberteilen auf den Parkplatz. Spinde wurden ausgeleert, Hefte in den Mülleimer geworfen. Aus Gesprächen wurden laute Rufe, aus den Rufen wurde Geschrei, als die Zehntklässler zu Elftklässlern und die Elftklässler zu Zwölftklässlern wurden. Alle hatten endlich das, worauf sie das ganze Jahr gewartet hatten – ihre Freiheit und einen neuen Anfang.
Alle, bis auf mich.
Lena und ich gingen zum Parkplatz. Ihre Tasche schlenkerte hin und her und wir rempelten uns aus Versehen
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