Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
achten, der über den Bildschirm flimmerte. Haley hatte Katze gespielt und sich an einem Ende des Sofas zusammengerollt. Jetzt schlief sie tief und fest.
»Ich weiß, dass es manchmal so aussieht, als wäre es das«, sagte Anne.
»Manchmal? Immer!«, rief Wendy pathetisch. »Schauen Sie doch nur, was dauernd für schlimme Dinge passieren! Tommys Dad und Dennis Farman und das Spaceshuttle und Tschernobyl. Und Haleys Mom und jetzt lassen sich meine Mom und mein Dad scheiden, und Dennis hat jemanden umgebracht!«
Dem ließ sich nicht leicht etwas entgegensetzen, trotzdem bemühte sich Anne, etwas Positives zu finden. »Ich musste im vergangenen Jahr mit vielen schlimmen Dingen fertigwerden«, sagte sie. »Aber ich habe auch Vince kennengelernt, und wir haben uns ineinander verliebt und geheiratet.«
»Ich werde niemals heiraten«, erklärte Wendy. »Ich verstehe nicht, warum die Leute so was tun, wenn sie sich am Ende dann doch bloß scheiden lassen. Marissa war nicht verheiratet, die war echt cool. Und sie hatte Haley.«
»Es ist nicht so einfach, ein Kind allein großzuziehen«, sagte Anne. »Selbst für zwei Leute ist das eine schwierige Aufgabe, wenn sie es gut machen wollen. Worüber spricht Haley denn die ganze Zeit?«
»Kätzchen.«
»Außer Kätzchen.«
»Daddys.«
»Sie hat nie einen Dad gehabt, aber sie hätte so gern einen, dass sie jeden Mann Daddy nennt«, sagte Anne.
»Sie wird noch herausfinden, dass die auch nicht alle so toll sind«, sagte Wendy. »Ich fand meinen Dad früher immer total cool, aber er ist einfach nur blöd. Er ist so gemein zu meiner Mom.«
»Wie meinst du das?«
»Er ist immer böse auf sie und sagt gemeine Sachen und bringt sie zum Weinen.«
»Ich will deinen Vater nicht in Schutz nehmen«, sagte Anne. »Ich weiß nicht, was für ein Problem er hat, aber man kann wohl davon ausgehen, dass er eins hat.«
Wendy verdrehte die Augen. »Ja, klar. Zum Beispiel seine Affären. Ich höre sie streiten. Ich bin nicht taub, und ich bin kein kleines Kind mehr. Ich seh mir im Fernsehen immer Denver Clan an. Mom glaubt, dass er was mit Marissa hatte. Ich hoffe, das stimmt nicht.«
»Das hoffe ich auch.«
»Marissa war echt cool!«, sagte Wendy. »Sie war immer lustig und hat gemacht, was sie wollte – aber nichts Schlimmes. Sie war richtig nett. Sie hat mich gefragt, wovon ich träume und was ich später mal werden will und so. Und als ich es ihr erzählt habe, hat sie gesagt: ›Wow, das ist toll, Wendy! Versuch, deine Träume umzusetzen!‹«
»Ich wünschte, ich hätte sie gekannt«, sagte Anne.
»Und sie hat diese wunderschönen Bilder gemalt und meiner Mom bei ihren Kunstwerken geholfen«, fuhr Wendy fort. »Ich will es gar nicht wissen, wenn sie was Schlimmes gemacht hat. Meine Mom hat sie gemocht, und das hätte sie ja wohl kaum, wenn sie gedacht hätte, dass Marissa eine Affäre mit meinem Dad hatte.«
»Vermutlich nicht«, sagte Anne. »Vermutlich hätten sie keine Freundinnen sein können, wenn es so gewesen wäre.«
Es kam ihr merkwürdig und unpassend vor, sich mit einer Elfjährigen über die Affären von deren Vater zu unterhalten, doch Wendy wusste offensichtlich, wovon sie sprach – zumindest bis zu einem bestimmten Punkt. Anne wollte ihr das Gefühl vermitteln, dass sie ihr alles sagen konnte. Aber wenn sie jetzt, wo sie elf war, bereits über solche Dinge sprachen, was würde dann kommen, wenn sie zwölf war oder dreizehn?
»Die Leute machen das Leben so kompliziert«, sagte Wendy mit einem Seufzer.
Einen Moment lang saßen sie schweigend da, und Wendy spielte mit den billigen Silberreifen, von denen sie ein halbes Dutzend am Arm trug. Sie sah zu Anne hoch. »Darf ich hier übernachten? Bitte. Ich will nicht nach Hause. Sie und Vince sind so cool. Ich könnte bei Haley im Zimmer schlafen.«
»Was ist mit deiner Mom?«, fragte Anne. »Es geht ihr im Augenblick nicht besonders gut. Meinst du nicht, dass du bei ihr bleiben und ihr Gesellschaft leisten solltest? Sie ist auch sehr verletzt worden, und ich bin sicher, sie fühlt sich ziemlich einsam.«
Wendy runzelte die Stirn und zupfte an einem losen Faden an ihren dunkelroten Leggings. »Ich weiß.«
Anne legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Sie erinnerte sich noch gut daran, dass sie es gewesen war, die ihre Mutter getröstet hatte, wenn ihr Vater sie wieder einmal wie Dreck behandelte. Es war Anne gewesen, auf die sich ihre Mutter gestützt hatte, wenn Dick Navarre sie wieder einmal
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