Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
recht ernstgenommen. »Aber sie ist ein Mündel des Staates, Euer Ehren. Sie fällt eindeutig in den Zuständigkeitsbereich des Jugendamts.«
»Ich bin der Richter«, erklärte Espinoza geduldig. »Und daran gefällt mir besonders, dass getan wird, was ich sage.«
Er wandte sich an Dixon. »Was denken Sie, Sheriff?«
Dixon seufzte. »An erster Stelle steht natürlich das Wohl des Kindes. Das Mädchen ist die einzige Zeugin eines brutalen Mordes. Wir tappen noch völlig im Dunkeln. Der Täter kann jemand sein, den das Mädchen kennt und der sich noch in der Stadt aufhält. Wenn der Täter mitbekommt, dass sie noch lebt …«
»Das Mädchen ist also möglicherweise in Gefahr.«
»Ja, Euer Ehren. Und damit auch jeder, in dessen Obhut sie sich befindet.«
»Wollen Sie das Mädchen wirklich zu einer Pflegefamilie geben, Miss Upchurch?«, fragte Espinoza. »Sie würden die Familie einer Gefahr aussetzen.«
»Wir brauchen keine Pflegefamilie!«, rief Milo Bordain dazwischen. Niemand schenkte ihr Beachtung.
»Wenn Sie Haley zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die Obhut von Mrs Bordain geben wollen, habe ich eine Pflegefamilie, die bereit wäre, sie die erste Zeit zu nehmen, die Bessoms.«
Willa Norwood sah Maureen Upchurch durchdringend an. »Das meinen Sie nicht ernst, oder? Die Bessoms haben schon fünf Pflegekinder und betreiben nebenher eine Kinderkrippe. Glauben Sie wirklich, das ist die richtige Umgebung für ein Kind, das psychisch extrem instabil ist?«
»Die anderen Kinder werden sie ablenken«, sagte Upchurch, als hätte das Mädchen sich lediglich das Knie aufgeschlagen.
»Haley würde in dem Durcheinander untergehen«, sagte Anne. »Wie soll sie da die Aufmerksamkeit bekommen, die sie braucht? Hat Mrs Bessom eine Ausbildung in Kinderpsychologie? Hat sie Erfahrung in der Trauerbegleitung?«
»Stabile Verhältnisse sind fast genauso wichtig«, erklärte Upchurch. »Mrs Bessom führt ein strenges Regiment. Das sind Kinder, die noch ›ja, Ma’am‹ und ›nein, Ma’am‹ sagen. Sie wissen sich zu fügen und kennen ihre Pflichten …«
»Na toll«, warf Anne sarkastisch ein. »Warum schicken wir Haley nicht gleich an die Militärakademie? Da kann sie ihre Trauer wegexerzieren.«
Upchurch funkelte sie an. »Ihr schnippischer Ton ist vollkommen unangemessen.«
»Und ich finde es unangemessen, dass es Ihnen offenbar nur darum geht, das Sagen zu haben«, gab Anne zurück.
In diesem Moment sprang Milo Bordain mit hochrotem Kopf auf und brüllte: » HÖREN SIE MIR ENDLICH ZU! ICH WILL, DASS SIE ZU MIR KOMMT! SIE SOLL ZU MIR KOMMEN !«
»Mrs Bordain.« Der Richter erhob sich und legte eine Hand auf Milo Bordains Arm, um sie zu beruhigen. Sie riss den Arm weg.
Das betretene Schweigen im Raum brachte sie offenbar wieder zur Vernunft. Mit Tränen in den Augen setzte sie sich und kramte ein Spitzentaschentuch aus ihrer Hermès-Tasche.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin mit den Nerven am Ende. Zuerst habe ich Marissa verloren und jetzt Haley … Ich kann das alles gar nicht fassen.«
»Mrs Bordain kann sich ja als Pflegemutter bewerben«, schlug Upchurch vor. »Wenn Mr und Mrs Bordain offiziell als Pflegeeltern anerkannt sind, könnte ich veranlassen, dass das Kind …«
»Euer Ehren, wir haben es hier mit außergewöhnlichen Umständen zu tun«, meldete sich Dixon zu Wort. »Das Kind sollte in eine geschützte Umgebung, zu Menschen, die ihm über den Albtraum, den es erleben musste, hinweghelfen können. Sowohl Mrs als auch Mr Leone haben Psychologie studiert. Anne war Lehrerin. Sie hat sich letztes Jahr um die traumatisierten Kinder gekümmert, die …«
»Sie ist nicht einmal im öffentlichen Dienst, Euer Ehren«, unterbrach ihn Maureen Upchurch. »Sie arbeitet nur ehrenamtlich. Und die beiden sind keine von unserer Behörde anerkannten Pflegeeltern. Ihr Haus ist nicht begutachtet worden und …«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, rief Anne. »Ihr Einwand gegen mich beruht darauf, dass ich nicht die richtigen Formulare ausgefüllt habe? Dass Sie nicht bei mir waren, um zu sehen, ob ich die Fensterbretter regelmäßig abstaube?«
»Darum geht es nicht.«
»Ja, das stimmt«, sagte Anne. »Es geht darum, was das Beste für Haley ist. Sie ist Opfer eines Gewaltverbrechens. Wissen Sie, was das heißt, Maureen? Mrs Bordain? Ich weiß es nämlich. Ich weiß genau, was das heißt. Ich weiß, wie es ist, wenn man nachts schreiend aufwacht, wenn man Angst hat, um die nächste Ecke zu biegen oder
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