Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
zu dem betreffenden Fall durch.
Die Mitglieder des Teams sollten den Fall fernab von den Eindrücken am Tatort möglichst objektiv betrachten, Ideen sammeln und ihre Erfahrung und ihr Wissen in einen Topf werfen. Dieses Verfahren funktionierte sehr gut und ermöglichte ihnen, mehrere Fälle auf einmal zu übernehmen. Vince hatte lange so gearbeitet, aber es hatte ihm nie richtig entsprochen. Er zog es vor, einen Tatort selbst in Augenschein zu nehmen, statt ihn sich auf Video oder Fotos anzusehen. Er wollte die Umgebung auf sich wirken lassen, und dazu gehörte eben auch die Energie, die nach einem Tod noch in der Luft vibrierte.
Er ging ins Schlafzimmer von Marissa Fordham. Bettzeug und Matratze waren in das staatliche kriminaltechnische Labor gebracht worden. Alles andere war unverändert.
Hier hatte der erste Angriff stattgefunden. An der Zimmerdecke waren Blutspritzer – der Mörder musste das Messer aus ihrem Körper gerissen und über den Kopf geschwungen haben, um erneut zuzustoßen. Durchwühlt hatte er das Zimmer erst später, als Marissa entweder schon tot war oder sterbend auf dem Küchenboden lag.
War sie im Schlaf angegriffen worden, vielleicht nachdem sie Sex gehabt hatte? Von einem aufgebrachten Liebhaber oder Möchtegernliebhaber? Von einem Fremden oder einem Freund?
Er ließ die Szene immer wieder vor seinem geistigen Auge ablaufen, jedes Mal mit einem anderen in der Rolle des Mörders. Zahn, Rudy Nasser, dem gesichtslosen Umriss von Haleys Vater, Steve Morgan, sogar Sara Morgan – womit er nur den Rat befolgte, den er Mendez gegeben hatte, da er es ebenfalls für unwahrscheinlich hielt, dass eine Frau eine andere Frau auf so brutale Weise umbrachte.
Was war das Motiv? Wut? Eifersucht? War es die Wiederholung eines anderen Verbrechens?
War Haley Zeugin dieser ersten Attacke gewesen? Hatte sie erschreckt zugesehen, wie ihre Mutter aus dem Schlafzimmer rannte, nackt und blutend, gejagt von einem Mörder mit einem Messer in der Hand?
Haleys Zimmer lag dem Schlafzimmer direkt gegenüber. Es war das Zimmer einer Prinzessin, voller rosa Rüschen. Ihre Mutter hatte die Wände mit einer Märchenlandschaft und Zauberwesen bemalt. Eine geflügelte Elfe ritt auf einem Einhorn. Eine lächelnde Katze sah vom Ast eines Lutscher-Baums herunter.
Niedlich war das, unschuldig. Der Unschuld sollte nicht mit vier Jahren ein Ende gesetzt werden, dachte er.
Er folgte der Blutspur in die Küche und hielt inne, sah von dem riesigen Blutfleck auf dem Boden zu dem blutverschmierten Telefon an der Wand. Das Mädchen musste auf einen Stuhl geklettert sein und von dem Stuhl auf die Arbeitsplatte, um das Telefon zu erreichen.
Es musste entweder während der Attacke auf seine Mutter angerufen haben oder gleich danach, als der Täter das Haus auf der Suche nach etwas, das er offenbar unbedingt finden wollte, durchwühlt hatte. Vince stellte sich vor, wie er zurück in die Küche kam und Haley am Telefon entdeckte, stellte sich vor, wie er sich das kleine Mädchen griff und es würgte, um schließlich den leblosen Körper wie ein Stück Müll neben der Leiche der Mutter zu deponieren.
Wenn Gina Kemmer nicht den Mund aufmachte, war Haley der einzige Schlüssel zu dem Verbrechen.
Vince sah seine Frau vor sich, wie sie letzte Nacht das schluchzende Kind in den Armen hielt und die Untröstliche zu trösten versuchte.
Der Unschuld sollte nicht mit vier Jahren ein Ende gesetzt werden. Es wäre besser für Haley, wenn sie das, was passiert war, einfach verdrängte. Aber bei der Lösung des Falls würde es ihnen nicht weiterhelfen. Sie mussten einen Mörder finden. Und das Kind war der Schlüssel.
27
»Maureen Upchurch«, sagte Franny mit größtmöglicher Verachtung, ohne dabei die Stimme zu heben. »Ich würde sie ja eine dumme Kuh nennen, wenn ich damit nicht sämtliche Kühe auf der Welt beleidigen würde.«
Sie saßen in Haleys Krankenzimmer. Das Mädchen schlief. Franny hatte Tee und Kekse aus dem Mad Hatter mitgebracht, einem Café auf der Via Verde unweit des College.
»Ihr Neffe war vor ein paar Jahren bei mir in der Gruppe«, fuhr er fort. »Sie selbst hat sich ja Gott sei Dank nicht fortgepflanzt. Möge der Blitz in ihre Eileiter fahren!«
Anne kicherte leise. »Du bist gemein.«
»Ich bin gemein?« Er machte große Augen. »Sie hat mich beim Schulamt angezeigt, weil ihr Neffe immer an seinem Pimmel rumgespielt hat.«
»Nein!« Anne legte die Hand auf den Mund, um nicht vor Lachen loszuplatzen. »Inwiefern
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