Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
müssen.«
Zahn saß in der Falle. Er wollte nicht, dass irgendjemand sein Allerheiligstes betrat, aber gleichzeitig hatte er nicht viele Freunde – wenn überhaupt. Langsam und mit sorgenvollem Gesichtsausdruck trat er einen Schritt von der Tür weg, dann noch einen.
»Danke«, sagte Vince und schlüpfte hinein. »Tausend Dank.«
In der Diele stapelten sich ungeöffnete Schachteln mit Weihnachtsschmuck aller Art – Christbäume und Adventskränze aus Plastik, Kugeln, Lametta, Weihnachtsmänner, Christbaumspitzen. Vince setzte sich auf eine an der Wand stehende Bank, um weniger bedrohlich auf Zahn zu wirken.
Einen Moment lang schien Zahn die Luft anzuhalten, so als erwartete er, dass jeden Augenblick eine Katastrophe über ihn hereinbrechen müsste, nachdem er erlaubt hatte, dass jemand die Schwelle zu seinem Heiligtum überschritt.
»Ich hole Ihnen etwas zu trinken«, sagte er schließlich. »Bitte warten Sie hier, Vince. Ich bringe es Ihnen.«
»Vielen Dank.«
Er blieb sitzen, falls Zahn einen Blick um die Ecke werfen sollte. Von der Bank aus konnte er ein Arbeitszimmer mit vollgestopften Bücherregalen sehen. Dazwischen ein feinsäuberlich aufgeräumter Schreibtisch. Eine Wand wurde von einer Tafel ausgefüllt, die mit mathematischen Gleichungen bedeckt war; für Vince hätte es genauso gut Sanskrit sein können. Er konnte seine Chancen beim Pferderennen ausrechnen, weiter reichten seine mathematischen Kenntnisse nicht.
In dem anderen für ihn einsehbaren Zimmer befand sich ein Sammelsurium an alten und neuen Aktenschränken aus Metall und Holz, die in Reihen an den Wänden entlang und quer durch den Raum aufgestellt waren. Zahn wusste sicher genau, was sich in jedem einzelnen der Schränke befand.
»Das sind aber eine Menge Aktenschränke, die Sie da haben, Zander«, sagte er und deutete zu dem Zimmer, als Zahn mit einem Glas Wasser in der Hand zurückkehrte. Vince nahm es und trank einen großen Schluck. »Bewahren Sie dort Ihre Papiere auf?«
»Ja. Ja, das tue ich. Ich bewahre jedes Papier an dem dafür bestimmten Platz auf.«
»Tony sagt immer, dass die Zukunft dem Computer gehört. Sie erinnern sich doch an Tony, oder? Er ist ein großer Technikfan. Er sagt, dass wir schon bald kein Papier mehr brauchen. Alle Informationen werden dann im Computer sein. Es hat ja schon angefangen. Selbst bei der Polizei. Alte Akten werden in Computerdateien umgewandelt. Dann können wir Fingerabdrücke aus Datenbanken abrufen«, fuhr er fort. »Aber nehmen Sie jemanden wie mich. Ich brauche den direkten Kontakt. Ich will einfach mit den Leuten reden. Am besten von Angesicht zu Angesicht. Und wenn das nicht möglich sein sollte – zum Beispiel weil sich der Betreffende in Buffalo aufhält –, dann greife ich eben zum Telefon und rufe ihn an.«
Bei der Erwähnung von Buffalo hatte Zahn mit den Lidern gezuckt, als wäre er von einem grellen Licht geblendet worden.
»Warum setzen Sie sich nicht, Zander?«, fragte Vince und rutschte zum Ende der Bank.
Zahn nahm Platz und fing an, sich mit den Händen nervös über die Schenkel zu reiben.
»Es ist in Ordnung, Zander«, sagte Vince sanft. »Ich urteile auch nicht. Ich weiß, dass Menschen manchmal etwas tun müssen, um sich selbst zu retten. Es ist in Ordnung. Es ist nicht immer leicht, ein Kind zu sein.«
Zahn sagte nichts. Er war in die Welt in seinem Inneren abgetaucht. Er schaukelte leicht hin und her und rieb sich immer noch mit den Händen über die Oberschenkel – versuchte nach so vielen Jahren immer noch, das Blut wegzureiben.
Vince saß still da, um Zahn nicht zu bedrängen und ihm die Gelegenheit zu geben, das Gesagte zu verarbeiten. Allerdings wollte er auch nicht so lange warten, bis das Schweigen unbehaglich wurde. »Ich kenne Ihre Geschichte, Zander«, sagte er mit derselben sanften, beruhigenden Stimme. »Ich weiß von Ihrer Mutter. Es muss eine schlimme Zeit für Sie gewesen sein. Sie war gemein zu Ihnen. Sie waren nur ein Kind, das brav sein wollte. Ich wette, dass Sie sich sehr bemüht haben. Sie waren kein böses Kind. Sie waren nur anders als die anderen. Dafür konnten Sie nichts.«
Zahns Schaukeln wurde heftiger, und aus seiner Kehle kam ein Wimmern wie von einem kleinen, gefangenen Tier.
»Niemand hat Ihnen die Schuld gegeben, Zander. Es war nicht Ihr Fehler.«
Zahn schüttelte den Kopf und sagte, ohne den Blick vom Boden zu heben: »Ich will die Geschichte nicht erzählen, Vince.«
»Das müssen Sie auch nicht. Ich weiß, was
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