Eine Versammlung von Krähen (German Edition)
Fähigkeiten. Tatsächlich kannte er niemanden auf der Erde, der dazu imstande gewesen wäre.
Was hat es für einen Sinn, hier herumzustehen und zu grübeln? Was stimmt bloß nicht mit mir? Ich kann es doch besser. Vor zwei Jahren habe ich Nodens bezwungen. Da sollte ich nicht an einer solchen Trivialität scheitern.
Denk nach, Mann. Denk nach!
»Krähen«, flüsterte er und starrte zum Himmel empor. »Dunkle, schwarz gekleidete Männer. Systematisches Abschlachten Unschuldiger. Aber warum? Zu welchem Zweck? Schlichte Grausamkeit? Womit habe ich es hier zu tun, Herr? Ich wüsste jede Hilfe, die du mir bieten kannst, sehr zu schätzen.«
Der Himmel schwieg genauso wie der Leichnam. Womit Levi insgeheim gerechnet hatte.
»Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott«, murmelte er. »Aber er macht es einem wahrlich nicht leicht.«
Eilige Schritte erregten seine Aufmerksamkeit. Levi schaute auf und sah, wie zwei junge Leute – ein Mann und eine Frau – aus den Schatten traten. Der Mann schien etwa Mitte 20 zu sein. Er trug eine blaue Jeans und ein Flanellhemd. Durch beides zeichnete sich eine ausgeprägte Muskulatur ab. Er schien in guter körperlicher Verfassung zu sein. Das braune Haar trug er kurz gestutzt, an den Seiten sogar auf Stoppellänge geschoren. Levi kannte diesen Schnitt. Von Mitgliedern des Militärs wurde er als »High & Tight« bezeichnet. Er vermutete, dass der junge Mann entweder ein Soldat oder ein Marine war – oder zumindest bis vor Kurzem gedient hatte. Die Frau schien ungefähr gleichaltrig zu sein. Sie war zierlich und hübsch, schaute ihn aus traurigen braunen Augen an, die zu ihrem langen Haar passten, und besaß einen hellen Teint.
Als sie ihn bemerkten, blieben sie stehen. Die junge Frau atmete keuchend ein. Offensichtlich waren beide in höchstem Maße verängstigt. Sie schauten zuerst den Leichnam am Boden, dann Levi an. Er hob die Hände und lächelte, um zu zeigen, dass er ihnen nichts Böses wollte.
»Hm«, murmelte Levi. »Vielleicht erhört der Herr heute Nacht doch meine Gebete.«
Randy brauste hinter Sam und Stephanie durch die Straßen. Er empfand eine übelkeitserregende Mischung aus Angst, Abscheu und blankem Entsetzen. Den CD-Player hatte er ausgeschaltet, weil ihn die Musik zu sehr ablenkte. Seine Augen weiteten sich, als er auf die Zerstörung ringsum starrte. Den Mann, der seine Eltern getötet hatte, entdeckte er ebenso wenig wie dessen Gefährten, aber die Anzeichen ihrer Gegenwart zeigten sich an jeder Ecke.
Randy lenkte seinen SUV durch das Stadtzentrum und bemühte sich, an Sams schnellerem Wagen dranzubleiben. Das Werk der Mörder ließ sich kaum übersehen. Brinkley Springs war nicht länger als die Stadt erkennbar, in der er aufgewachsen war. Feuer brannten in einem Dutzend Häusern und Ladengeschäften, ohne dass sich jemand ums Löschen kümmerte. Autos und Laster standen verwaist entlang der Straßen und in Auffahrten, etliche mit offenen Türen oder Motorhauben, als hätten ihre Besitzer eine Panne gehabt. Er dachte an den Beginn ihrer Flucht zurück. Auch Sams Nissan hatte zunächst nicht anspringen wollen – erst als sich Randy dagegenlehnte, hatte die Zündung gespurt.
Leichen und Tierkadaver säumten die Straßen, waren in Gärten und auf Gehwegen verstreut. Viele der Toten kannte Randy – wenn schon nicht namentlich, dann zumindest den Gesichtern nach –, aber er verdrängte den Gedanken. Wenn er so tat, als kenne er sie nicht, als wäre ihr Tod genauso bedeutungslos wie der eines beliebigen Feinds in einem Videospiel, würde er es sicher besser verkraften. Manche Leichen wiesen keine sichtbaren Verletzungen auf, andere waren übel zugerichtet worden – ausgeweidet, in Stücke gerissen, die Köpfe und Gliedmaßen achtlos beiseite geworfen.
Einige von ihnen hatte ein noch schlimmeres Schicksal ereilt. Ein Mann ragte halb aus der Glasfront der Pfandleihe heraus. Scherben hatten ihm den Kopf von der Nase aufwärts abgetrennt. Ein kleines Kind lag ausgestreckt in einem mit Blut gefüllten Planschbecken. Ein Mann war mit seinen eigenen Armen und Beinen gepfählt worden. Die grausigen Glieder ragten wie angewachsen aus seinem Rumpf. Mehrere Menschen waren bei lebendigem Leib verbrannt. Ihre verkohlten Überreste rauchten auf dem Rasen. Ein undefinierbarer Haufen in Rot, Braun und Rosa neben einem Holzstoß und einem Hackblock, in dem eine blutige Axt steckte, entzog sich jeder Beschreibung. Trotzdem glaubte Randy zu wissen, worum es sich handelte. Galle
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