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Eine Versammlung von Krähen (German Edition)

Eine Versammlung von Krähen (German Edition)

Titel: Eine Versammlung von Krähen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Keene
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Hose ab. Er verzog das Gesicht aufgrund des klebrigen Gefühls an den Handflächen und musste an den Hund denken, der auf den Zaun der Kirche gespießt worden war. Eine Menge Blut klebte in dieser Nacht an seinen Händen. Die Symbolträchtigkeit entging ihm keineswegs. Versuchte der Herr, ihm eine Botschaft zu übermitteln, oder handelte es sich um eine schlichte Synchronität der Ereignisse? Genau genommen spielte es keine Rolle. Wenn er diesem Gemetzel nicht bald ein Ende bereitete, würde sämtliches Blut in Brinkley Springs an ihm haften.
    Er griff in eine seiner Taschen und zog mit der besudelten rechten Hand ein Stück Kreide daraus hervor. Damit zeichnete er rasch, aber konzentriert, mehrere geheime Zeichen. Fehler konnte er sich keine leisten. Eine vermeintliche Lappalie wie eine deplatzierte Linie oder ein falsch gesetzter Punkt konnte unerwartete – wenn nicht verheerende – Folgen haben. Trotz der Kälte, die in der Luft lag, tropfte ihm Schweiß von der Stirn und von der Nasenspitze. Levi achtete darauf, dass nichts davon innerhalb des Musters landete. Abgesehen von Schreien und vereinzelten Schüssen, die nach wie vor durch die Straßen hallten, gab es keine weiteren Störungen.
    Als Levi fertig war, stand er auf und betrachtete sein Werk. Den Schmerzen in seinen Gelenken und in seinem Rücken schenkte er keinerlei Beachtung. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihm die Zeichnung gelungen war, stellte er sich über den Leichnam und achtete darauf, dass seine Fußspitzen nicht mit den Kreidestrichen in Kontakt kamen.
    »Es tut mir ja so leid«, flüsterte er. Dann erhob er die Stimme zu einem kehligen Sprechgesang in einer Mischung aus Altsumerisch und einer Sprache, die normalerweise nicht von menschlichen Zungen gesprochen wurde.
    Eine schwarze Krähe schwebte über dem Blutbad, während zwei ihrer Brüder, beide noch in menschlicher Gestalt, eine vierköpfige Familie ausweideten – Vater, Mutter und deren Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Unersättlich stürzten sie sich auf die entweichenden Seelen der Eltern und des Jungen, um sie gierig zu verschlingen. Dann legten sie eine kurze Pause ein und traten beim Tauziehen gegeneinander an, wobei sie die Arme des kleinen Mädchens als Seil benutzten. Die Glieder lösten sich mit schmatzenden Lauten aus den Gelenkpfannen. Sehnen und Muskeln wurden überdehnt und rissen. Das Kreischen des Mädchens schwoll in eine durchdringend schrille Tonlage an. Die Krähe schwebte zu Boden und nahm menschliche Form an.
    »Spielt nicht mit eurem Essen.«
    Die Brüder der Kreatur lachten. Sie zogen heftiger, und die Glieder lösten sich endgültig vom Rumpf. Das Mädchen plumpste zu Boden. Sie war bewusstlos, zuckte aber trotzdem unkontrolliert. Sie rangen miteinander um die entweichende Seele, doch dann hielten sie unvermittelt inne.
    »Spürt ihr das?«
    »Ja. Was ist es?«
    »Jemand in dieser Stadt kennt noch das alte Brauchtum. Derjenige will Zwiesprache mit den jenseitigen Reichen führen.«
    »Wenn er das kann, dann beherrscht er vielleicht auch anderes Wirken. Ist er womöglich in der Lage, uns zu besiegen?«
    »Entsendet euren Geist. Fühlt ihr seine Macht? Er ist gefährlich.«
    »Und ob.«
    »Findet ihn unverzüglich. Aber seid vorsichtig. Der da ist nicht wie die anderen. Er ähnelt jenen, mit denen wir einst konfrontiert waren.«
    Ohne ein weiteres Wort nahmen alle drei wieder Krähengestalt an und flogen in die Nacht davon. Die geschundenen Leichen ließen sie dort zurück, wo sie zu Boden gefallen waren. Die Vögel stiegen in verschiedene Richtungen auf und suchten die Dunkelheit nach der Quelle der Störung ab, und ihr Geschrei war fürchterlich für alle, die es hörten.
    Mit 89 Jahren war Jack McCutchon der älteste Bewohner von Brinkley Springs. Er lebte allein und versorgte sich selbst, worauf er sehr stolz war. Immer noch verschaffte er sich täglich Bewegung, indem er von der Haustür zum Ende der Auffahrt und wieder zurück wanderte, und er besaß nach wie vor die meisten seiner Zähne. Sicher, er musste ein Hörgerät tragen, aber abgesehen davon fand er, dass er ziemlich gut in Schuss war.
    Jack fürchtete sich nicht vor dem Alter, und er fürchtete sich auch nicht vor dem Sterben. Tatsächlich fürchtete er sich vor kaum etwas. Als Funker bei der Luftwaffe war Jack im Zweiten Weltkrieg Bombenangriffe über Japan geflogen. Das verbrannte Fleisch konnten sie oft bis in den Flieger riechen. Eines Nachts, bei der Attacke auf ein kleines

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