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Eine Versammlung von Krähen (German Edition)

Eine Versammlung von Krähen (German Edition)

Titel: Eine Versammlung von Krähen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Keene
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stieg ihm in die Kehle, als er sich zwang, den Blick abzuwenden. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite baumelte eine Frau an der Schlinge eines Verlängerungskabels von einem Ast. Man hatte ihr die Brüste abgetrennt und den Bauch aufgerissen. Ihre Eingeweide breiteten sich unter ihren Füßen aus. In die Rinde des Baums war in Blockbuchstaben ein Wort geritzt.
    CROATOAN
    Als Randy daran vorbeiraste, fragte er sich, was es bedeuten mochte. Ein seltsames Wort, keines, das er je zuvor gehört hatte. Er wusste nicht einmal, ob es Englisch war. Und wer hatte es in das Holz geschnitzt? Die Männer in Schwarz? Randy hatte Erfahrung damit, Initialen in Bäume zu ritzen. Mit 14 war er einen ganzen Sommer lang mit Cathy Wilson gegangen. Sie hatten ein Lieblingsplätzchen am Greenbrier River gehabt – eine abgeschiedene Stelle am Ufer, versteckt hinter einer Gruppe hoher Birken. Fast jeden Tag waren sie hingegangen und hatten die Nachmittage mit Schwimmen, Reden und Fummeln verbracht. Randy schaffte es schließlich, sie zum Nacktbaden zu überreden, doch trotz aller Bemühungen war es ihm nie gelungen, über Petting hinauszukommen.
    Am Ende des Sommers hatte er mit seinem Jagdtaschenmesser, einem Geburtstagsgeschenk von Großvater, Cathys und seine Initialen in den Stamm einer Birke geritzt. Trotz der weichen Rinde hatte er einen ganzen Nachmittag dafür gebraucht, um das kleine Zeichen seiner Zuneigung zu hinterlassen. Das seltsame Wort am Henkersbaum dagegen bestand aus acht riesigen Buchstaben, die jeweils gut zehn Zentimeter hoch waren.
    Schlagartig kam er auf andere Gedanken, als sie eine lange Gerade in der Nähe des Stadtrands erreichten. Sam drückte urplötzlich aufs Gas, und Randy hatte keine andere Wahl, als es ihm gleichzutun. Er sah auf den Tacho. Die Nadel näherte sich der Marke von Kilometern pro Stunde.
    »Verdammt noch mal, fahr langsamer, Sam. Es bringt uns nichts, wenn du Stephanie und dich um einen beschissenen Strommast wickelst.«
    Natürlich wusste er, dass sein Freund ihn nicht hören konnte, doch es kümmerte Randy nicht. Er fühlte sich besser, wenn er auf Sam fluchte. Es lenkte seine Gedanken von dem Grauen ringsum ab und half ihm, zu verdrängen, was seinen Eltern zugestoßen war. Randy biss sich auf die Unterlippe und packte das Lenkrad fester. Er stöhnte gedehnt, dann setzten die Tränen wieder ein. Seine Sicht verschwamm. Um die Straße im Blick behalten zu können, blinzelte er heftig, aber jedes Mal, wenn er es tat, tauchten die grotesken Bilder wieder auf. Sein Vater, der aus einem Dutzend Schnittwunden blutete, zitterte und zuckte, als die Glasscherbe sein Auge durchbohrte. Seine Mutter, die tapfer das Steakmesser hielt und ihn zu beschützen versuchte. Die Stimme des Killers, als er ankündigte, Randys Mutter von innen nach außen zu kehren. Wie es in seinen Ohren gesummt hatte und seine Hände taub geworden waren, als er den Abzug der Waffe drückte. Am meisten machte ihm die Erinnerung an den fassungslosen Ausdruck im Gesicht seiner Mutter zu schaffen, als die Kugel durch den Eindringling sauste und in ihren Körper einschlug.
    »Es tut mir leid, Ma.« Er wischte sich mit dem Handrücken über Augen und Nase. »Ich wollte dich nicht zurücklassen. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Und dann war da noch Steph …«
    Was würde Marsha sagen, wenn sie es herausfand? Was würde sie über ihn denken? Wahrscheinlich hasste sie ihn, und das mit Fug und Recht. Schließlich hatte er ihre Mutter im Stich gelassen. Sie erschossen . Schlimm genug, dass er seinen Vater nicht retten konnte, aber zumindest seine Mutter hätte er verteidigen müssen. Stattdessen trug er die Schuld an ihrem Tod.
    Randy hoffte, dass es seiner Schwester gut ging und sie mit Donny zusammen war. Wenn jemand mit diesen merkwürdigen Scheißkerlen fertig werden konnte, dann Donny Osborne. Bei ihm befand sich Marsha in guten Händen. Es musste so sein. Randy hatte nun nur noch Marsha. Marsha und Stephanie …
    Sie rasten an Pheasants Autowerkstatt vorbei, die wie der Rest der Stadt unbeleuchtet dalag. Als Randy zu Sam aufschloss, fiel ihm etwas auf. Seit der Flucht von seinem Haus waren sie keinen anderen Fahrzeugen begegnet. Natürlich parkten eine Menge am Bordstein oder in Auffahrten, einige schienen einfach auf der Straße liegen geblieben zu sein. Aber nicht ein Wagen war an ihnen vorbeigefahren. Nicht einmal ein Motorrad. Er fragte sich, woran das liegen mochte. Hatte es etwas zu bedeuten? Sie konnten doch nicht

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