Eine Vielzahl von Sünden
offenen Weite des Canyons strömte, gar nicht mal ein schlechtes Gefühl, jetzt hier zu sein. Was immer Schlimmes passiert war, gehörte auf die andere Seite. Jetzt war er hier. In Sicherheit.
Obwohl jetzt gleich all die anderen Phrasen einsetzen würden. Ihre genaue Bedeutung würde nur zu bald sein Denken beherrschen. Behörden benachrichtigt. Hilfe angefordert. Frances gerettet (obwohl sie natürlich tot war). Die Institutionen, die für schreckliche Ereignisse zuständig waren, mussten in Gang gesetzt werden, auf der Stelle.
Er starrte Frances’ Pentax an, die auf dem schwarz glitzernden Asphalt lag, kaputt. Er versuchte sich zu erinnern, ob sie ihn heute Morgen im Auto fotografiert hatte, ihn im Motel gestern Nacht, ihn in Phoenix, ja, ihn bei der Panorama-Aussicht vor einer Stunde. Aber er konnte sich schlicht nicht erinnern. Sein Kopf war nicht so stillgelegt, dass er sich nicht an so etwas hätte erinnern können, so gut er auch wusste, wie sehr er sich gewünscht hätte, die Antwort wäre nein , sie hätte ihn nicht fotografiert, und die Kamera würde da liegen bleiben, wo sie hingefallen war. (Obwohl, hatte er sie nicht angefasst?)
Und natürlich, klar, die Antwort lautete ja , sein Gesicht war auf dem Film. Mehr als einmal. Diese Erkenntnis kehrte zurück. Und natürlich hatte er den Apparat auch berührt. Und trotz der Tatsache, dass er binnen zwei Minuten oder noch schneller ins Dorf laufen und einen Notruf losschicken würde, musste die Kamera beseitigt werden. Denn alles, was geschehen würde – mit Frances, mit ihm, mit Mary, mit Ed –, hing davon ab, was mit dieser einen Kamera und ihrem Inhalt geschah. Jetzt war der entscheidende Moment – das wusste er aus dem Fernsehen –, wo Frances mit dem Gesicht nach oben zum leeren Himmel da hing und er selbst noch unversehrt war; dies war die »kritische Zeitspanne«, über die eine gründliche polizeiliche Ermittlung Rechenschaft ablegen musste; befragt, betrachtet, immer wieder und wieder und wieder durchgegangen. Die Zeit davor, während und sofort danach würde untersucht und nochmals untersucht werden, um herauszufinden, ob er Frances Bilandic umgebracht hatte und warum das plötzlich notwendig geworden war. (Eine schief gegangene Liebesgeschichte? Ein plötzlicher Streit beim Frühstück? Hasserfülltes Heimzahlen. Eine unerklärliche Tat aus Leidenschaft oder Wut. Ein bloßer Fehler. Er konnte fast meinen, er hätte es getan, so viele plausible Gründe ließen sich ausdenken.)
Zu dumm, dachte er, wie er über der schwarzen Kamera auf dem schwarzen Asphalt stand und nachdachte, zu dumm, dass er Frances nicht genau in dem Augenblick geknipst hatte, als sie abgestürzt war. Viele tausend Worte hätte dieser glückliche Zufall erspart. »Oha.« Das war offenbar ihr letztes Wort auf dieser Welt. Und er war derjenige, der es gehört hatte. Was sonst keiner wusste. Er hing tief drin.
Da schnappte er sich die Kamera und setzte sich, warum, das hätte er auch nicht recht sagen können, vom Canyonrand zum Parkplatz in Bewegung, nicht zum Dorf, wo es Hilfe gab. Gerade angekommene grandcanyonbegeisterte Touristen schlenderten vom Parkplatz in Shorts und leuchtenden Pullis herauf, mit Kameras und Rucksäcken beladen, und scherzten darüber, »ein großes Loch in der Erde« zu sehen. Sie würden ihn mit Frances’ Kamera in der Hand sehen. Aber eigentlich hatte er nichts richtig Verdächtiges an sich, abgesehen davon, dass er sehr groß und allein war. Sah sein Gesicht komisch aus? Gequält?
Eine Telefonzelle stand gleich beim landschaftlich hübsch gestalteten Parkplatz am Rand des Kiefernwaldes. Hier wuchsen sogar noch ein paar rosa Wildblumen. Natürlich sollte er anrufen. Zumindest das. Den Notfall melden. Obwohl es heutzutage ja keine anonymen Anrufe mehr gab. Alles tauchte blitzschnell auf irgendeinem Bildschirm auf. »Howard Cameron meldet Todesfall.« In Sekundenschnelle würden Maßnahmen ergriffen werden. Und was dann? Er musste nachdenken, während weitere Besucher an ihm vorbeizogen, plaudernd, kichernd. Anrufen und was sagen? Was erklären? Für was die Verantwortung übernehmen? (Wo er doch nichts anderes getan hatte, als ein Foto nicht zu machen.) Möglichkeiten stiegen ihm heiß zu Kopf, schwebend wie Asche über einem Feuer – keine davon genau umrissen, greifbar, aber alle real und gefährlich. Dabei war es so seltsam, dachte er immer wieder: Kaum waren sie da, war sie schon abgestürzt. Und er hatte gar nicht kommen wollen.
Er
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