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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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an. Nichts daran klang besonders wahr.
    »Ja«, sagte er zerstreut. »Ganz sicher.« Er sah eine Krähe, die über die blaue Himmelsfläche über dem Parkplatz flog. »Sie können die Autovermietung anrufen. Sie hat den Wagen gemietet. Nicht ich.«
    »Und welche Autovermietung war das?«, sagte Officer Jorgensen und musterte ihn weiter mit leicht zusammengekniffenen Augen.
    »Ich weiß es nicht«, sagte er und lächelte. »Ich weiß nicht sehr viel.«
    »Ist Ihnen irgendjemand Verdächtiges aufgefallen, der Ihnen folgte?« Plötzlich klang sie fast verständnisvoll – als hätte ihm niemand folgen sollen. Und zwar so sehr, dass er sogar bereit war, den Tag rückwärts durchzugehen. Ein so langer Tag, so kompliziert, voller komplexer, schrecklicher Dinge. Und jetzt das blöde Auto. Er konnte kaum glauben, dass so ein Tag dort angefangen hatte, wo er angefangen hatte, in der kühlen, sonnigen Brise vor einem Tipi, wo eine Indianerin tote Kakerlaken von der Türschwelle fegte, während Frances schlief. Er dachte an den Camaro mit den Flammen an der Seite und dem Doughnut-Ersatzreifen. Und die kleine Kapelle, wo alle Sünder die Vergebung Chrisi suchen sollten. Er dachte einen Augenblick daran, wie Frances gestern Nacht gesagt hatte: »Das waren unsere Ur-Geister«, wusste aber nicht mehr genau, was sie dazu gebracht hatte.
    »Nein, ich glaube nicht, dass uns jemand gefolgt ist«, sagte er und schüttelte den Kopf. Dann schaute er wieder an der Reihe Heckscheinwerfer entlang. Ihm war, als müsste er jetzt einfach den roten Lincoln sehen. Dass er da war, wie die Brieftasche auf dem Dielentisch – vorhanden, nur einen Moment lang unsichtbar. Aber nein. Der war inzwischen weit weg. Noch etwas, das schwer vorstellbar war.
    Natürlich hatte er nicht getan, was ihm Frances aufgetragen hatte, als hätte sie alles kommen sehen. Er dachte an diesem Tag in regelmäßigen Abständen an ihren Rat; als der Verdacht eine Zeit lang auf ihn gefallen war; als ihm ein Mitglied der Rettungsmannschaft in einem Schottenkarohemd mitteilte – während er ein Sandwich aß –, dass ihre Leiche mit Hilfe eines Drahtkorbs und einiger Taue (nicht per Hubschrauber) geborgen und dass ihr linker Arm tatsächlich vom Körper getrennt worden war; als er hörte, dass ihre nächsten Verwandten mit Hilfe von Visitenkarten aus einem kleinen perlenbestickten Portemonnaie informiert worden waren, das sie bei sich gehabt hatte – davon hatte er gar nichts gewusst; als er Eds Nachnamen hörte (der überraschenderweise Murphy lautete) und den Namen der Firma Weiboldt und dann den Namen seiner Frau und der Stadt, in der er lebte, was sich mit den Stimmen von Fremden seltsam anhörte; immer weiter und weiter und weiter hinein in Lebensläufe, Einzelheit um Einzelheit, die jetzt alle betroffen und vielleicht sogar vermasselt waren, Lebensläufe von Menschen, denen es ohne Zweifel jetzt schlechter ging als vorher, schrecklich sogar, und das nur wegen ein paar fehlgelaufener Ereignisse und wegen seiner fragwürdigen Entscheidung, dafür geradezustehen. Mehrmals – als er auf einem Klappstuhl aus Metall in einem Büro mit Holzpaneelen saß, dessen Fenster auf das neue, auf rustikal gemachte Besucherzentrum hinausging – dachte er, dass er auf einen Fehler einen noch schlimmeren Fehler gesetzt hatte, dass er einfach hätte weggehen sollen, wie Frances gesagt hatte; auf dass alles, was er jetzt durchmachte, nicht an einem einzigen Tag herauskam – vielleicht auch überhaupt nicht. Jedes kleine bisschen, das er an den letzten zwei Tagen getan hatte, hätte unbemerkt bleiben können. Und statt in dieser langwierigen, peinigenden Situation hätte er jetzt auch in Phoenix sitzen und sich überlegen können, wie er die Ereignisse des Tages am besten hinter sich lassen und den Abend einläuten sollte. Obwohl das wirklich noch schwerer gewesen wäre. Während das, was er getan hatte – bleiben, erzählen, auf sich nehmen –, in Wahrheit womöglich leichter war.
    Schließlich, noch bevor der Nachmittag zu Ende ging, verflog der Verdacht allmählich, und man war nun geneigt, einen Unfall anzunehmen. Er hatte alles erzählt, die Kamera fast dankbar übergeben, die Missbilligung der Polizisten ertragen, bis irgendetwas an ihm, glaubte er, etwas Redliches in seiner Größe, etwas in der Geduld, mit der er auf dem Klappstuhl saß, die Ellbogen auf den nackten Knien, den Blick auf die großen weichen leeren Hände gerichtet, und durchaus aufgewühlt erzählte, was geschehen

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