Eine Vielzahl von Sünden
direkt nach unten ging.
Und in diesem Augenblick begann sein Kopf zu hämmern und sein Herz in der Brust zu holpern und zu stolpern, sein Atem wurde flach und schwer und seltsam heiser, ein Brausen in seinen Ohren setzte ein, als wäre er gerannt und hätte laut gerufen, kommt schnell her. Und in diesem Augenblick ging er auf die Knie und Fäuste wie ein Tier, als könnte er so besser atmen, und spähte über die zackige Kante und nach unten, weit nach unten, so weit nach unten – und bestimmt noch nicht bis zum Grund, wo der Fluss weiß aufschien. Aber weit. Bestimmt über fünfzig Meter tief, wo die Erd- und Felsflanke des Canyons in ihrem direkten Fall nach unten durch einen Vorsprung unterbrochen wurde, der vielleicht einen Meter vorragte und dann wieder abbrach, und noch viel weiter hinab bis zum Grund. Da waren Steine und weitere Krüppelbüsche und ein Baum – eine zerzauste, asiatisch aussehende Zeder, die in einem solchen Winkel aus Erde und Fels hervorgewachsen war, dass sie irgendwann abstürzen musste. Und genau dort, am bergauf gekrallten Fuß dieser alten Zeder, war Frances, über fünfzig Meter unter ihm.
Ihr Gesicht sah er als Erstes, rund und glänzend im Sonnenschein. Sie starrte hoch zu ihm, ihre Augen anscheinend offen, aber alles andere – ihre weißen Shorts und das blaue Segelleinen-Oberteil mit dem Anker, ihre nackten Beine und Arme – all das lag wild verstreut um sie herum, als wäre erst ihr Gesicht nach unten geworfen worden und dann alles andere. Von hier oben sah es sogar so aus, als wäre ein Arm heil, aber von ihrem Körper getrennt.
Und sie regte sich nicht. Einen Augenblick lang glaubte er, ihr Gesichtsausdruck hätte sich verändert, genau in dem Moment, als er sie entdeckte. Aber das war unwahrscheinlich, denn er veränderte sich nicht noch einmal. So schlecht er sie auch erkennen konnte, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
Wie lang kniete er da zwischen den Krüppelkiefern und dem Geröll und den Papierabfällen und dem Uringeruch jenseits der Mauer? Er konnte es nicht genau sagen. Aber nicht lang. Das Brausen in seinen Ohren hörte als Erstes auf. Eine Zeit lang schlug sein Herz noch wild, dann schien es fast stehen zu bleiben, danach stieg kühler Schweiß seinen Nacken hoch und in seine Haare und machte Flecken auf sein T-Shirt. Er schaute wieder zu Frances hinunter, behielt ihr bleiches Gesicht sorgfältig im Auge und versuchte zu überlegen, was er tun sollte: ihr helfen, sie retten, sie trösten, sie zurückholen, ihr geben, was sie brauchte, dort, wo sie war. Irgendetwas davon. Alles davon. Aber was? Die Zeit verging nicht langsam oder schnell. Er jedenfalls, allein dort im Gestrüpp, schien so viel Zeit zu haben, wie er brauchte, um einen Entschluss zu fassen.
Nur wusste er, dass dieser Zustand nicht anhalten würde. Howard sah hoch zu den Teleskopen, wo die anderen Besucher hingegangen waren. Frances würde zuerst nicht entdeckt werden – sie lag zu nah an der Canyonwand, zu verborgen unter den Ästen der Zeder. Zu überraschend. Eine Zeit lang würde man sie für etwas halten, was sie nicht war. Ein Teil ihrer eigenen Kleidung. Niemand würde sehen wollen , was geschehen war. Sie wollten sich doch etwas ganz anderes anschauen.
Obwohl, falls es irgendwer gesehen haben sollte, wären sie schon unterwegs – schreiend, fuchtelnd –, genau wie er sich vor einer Sekunde oder zehn Minuten gefühlt hatte. Andere Menschen würden schon an der Mauer stehen und nach unten schauen. Dann würden sie auch ihn sehen, der hingekauert dahockte wie ein Tier, sein T-Shirt eine weiße Fahne im Gesträuch. Das würde sehr bald passieren. Ihre Kamera lag auf der Mauer. Er musste los, und zwar jetzt.
Auf Händen und Knien robbte er rückwärts von der Kante weg, drehte sich um, kroch zwischen den Kiefernwurzeln und dem menschlichen Abfall bis zum nach Pisse riechenden Fuß der Mauer. Und weil er so groß war, stand er einfach auf und spähte hinüber und konnte den ganzen asphaltierten Pfad bis unten zum Parkplatz übersehen, von wo aus Frances und er der Menge gefolgt waren. Niemand war auf dem Weg nach oben oder kehrte von den Teleskopen zurück. In der Erkenntnis dieses Augenblicks hechtete-hievte er sich auf und über die Mauer, wobei er Frances’ billige Pentax auf den Asphalt kickte.
Er stand schnell auf, auf der richtigen Seite der Mauer, der korrekten Seite, die dem Rest der Welt zugewiesen war. Und es war gar nicht, spürte er in der kühlen Luft, die aus der
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