Eine Vielzahl von Sünden
waren bestimmt auch Leute von Weiboldt, dachte er, die sie sehen und wiedererkennen und im Handumdrehen alles begreifen würden. Frances und er fielen doch auf wie Pat und Patachon. Nicht gerade das Beste, um ungeschoren davonzukommen. Sein Vater hatte immer gesagt, es käme nicht darauf an, wer wüsste, was man getan hätte, sondern nur darauf, was man getan hätte. Und was hatten sie getan? Gevögelt und eine Spritztour mit einem gemieteten Auto gemacht, während der Arbeitszeit. Wahrscheinlich inzwischen längst ein Schwerverbrechen. Außerdem schien Frances ihn inzwischen nicht mehr sehr zu mögen. Er sah zwar nicht, was er so furchtbar falsch gemacht hatte, außer dass er in dem Motel zu schnell eingeschlafen war. Er hatte absolut nichts dagegen, mit ihr hier oben zu sein, nichts dagegen mitzumachen, Hauptsache, sie blieben nicht den ganzen Tag. Er merkte, dass er Hunger hatte.
Bergan auf dem Pfad merkte man gar nicht, dass es etwas zu sehen gab, da war nur eine niedrige Steinmauer weiter vorn, wo die Leute stehen geblieben waren, und eine Menge blauer Himmel dahinter. Ein Flugzeug, eine kleine einmotorige Maschine, tuckerte über diesen Himmel.
Und dann, jäh, einfach urplötzlich, war er da; am Grand Canyon, neben Frances, die ihre Kamera schon am Auge hatte. Und es war tatsächlich unmöglich, davon nicht verblüfft zu sein – der gesamte Grand Canyon, auf einmal alles einfach so da, aufgeklappt und tief und weit vor einem, gigantisch und ohne Boden, bewohnt von einer großen unsichtbaren Stille, und eine kühle Luftsäule quoll daraus empor wie aus einem riesigen Brunnen. Ein Schock.
»Ich möchte nicht, dass du auch nur ein Wort sagst«, sagte Frances. Gerade schaute sie nicht durch ihre Kamera, sondern starrte direkt in den Canyon hinein, als atmete sie ihn ein. Sonnenschein lag auf ihrem Gesicht. Sie wirkte durch und durch selig.
Aber er wollte etwas sagen. Es schien nur natürlich, die ganze Sache in ein paar eigene Worte zu fassen. Nur dass er neben Frances augenblicklich das Gefühl bekam, schon etwas falsch zu machen, sich der Sache falsch genähert zu haben oder falsch dazustehen oder den Scheiß-Canyon am Ende auch noch falsch anzuschauen. Es hatte damit zu tun, dass man ihn erst gar nicht sah und dann komplett sah, so als könnte man ihn tatsächlich versäumen. Den ganzen Grand Canyon versäumen!
Natürlich gab es eine Art, ihn richtig anzuschauen, nämlich alles auf einmal, die volle Dosis, so wie Frances es offenbar gerade tat. Doch der Canyon war viel zu groß, um seinen Blick darauf scharf zu stellen. Zu groß und zu kompliziert. Howard hätte am liebsten kehrtgemacht, wäre zurück zum Auto gegangen und wieder hochgekommen. Hätte sich noch mal richtig vorbereitet.
Er schaute sinnierend auf das flache braune Plateau und die jäh abstürzende Wand gegenüber auf der anderen Seite – wie weit weg, ließ sich schwer sagen, denn die Perspektive war im Eimer –, genau so wie zu erwarten, nach den Fotos, die er an der High School gesehen hatte. Eine Touristenattraktion. Etwas Sehenswertes. Ganz schön groß. Aber zwanzig Billionen Menschen hatten ihn schon besichtigt, dadurch fühlte sich die Sache irgendwie zwecklos an. Ein Negativ. Anders als das Meer, das einen Nutzen hatte. Kein Mensch brauchte den Grand Canyon für irgendetwas. Von Belang war er höchstens, überlegte er, als Hindernis für jemanden, der auf die andere Seite wollte. Aber das sollte er besser nicht zu Frances sagen, die wahrscheinlich gerade ein religiöses Erweckungserlebnis hatte. Die würde in die Luft gehen. Die beste Bemerkung zum Grand Canyon wäre doch, dachte er, wie still er war. Er hatte noch nie etwas so Stilles erlebt. Überhaupt nicht wie ein Flughafen. Obwohl man ihn wahrscheinlich am besten auf einem Flug mit der kleinen Maschine da besichtigen sollte.
Die Leute, denen sie auf dem asphaltierten Pfad nach oben gefolgt waren, zogen jetzt weiter zu den Teleskopen, die in ein paar kleine Felsauswüchse vor der Mauer hineingebaut worden waren. Man hörte lauter Oohs und Aahs, und die meisten hatten ihre Videoausrüstung dabei, um den leeren Raum aufzunehmen. Weiter hinten lag vermutlich ein neues rustikales Hotel und die Souvenirläden, eine Kunstgalerie und ein IMAX -Kino, das einem zeigte, was man auch allein sehen konnte.
Er hatte noch nichts gesagt, aber er wollte Frances gern mitteilen, dass er das alles doch sehr lohnenswert fand. Er wollte sie bloß nicht wieder wütend machen. Für sie war das eine
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