Eine Vielzahl von Sünden
wenn ich einen Mann sehe, der mich an ihn erinnert, während er irgendein Gebäude in seinem Seersucker-Anzug und einer grellen Fliege betritt. Dann bemühe ich mich immer wieder um die Erkenntnis, dass ich am besten loslassen sollte, dass ich mit meiner Wut ganz allein bin und dass es keine Wiedergutmachung gibt. Man wünscht sie sich. Manchmal kann man im Leben fast nichts anderes sehen als den Wunsch nach Wiedergutmachung. Als Rechtsanwalt, dessen Vater Rechtsanwalt war und dessen Großvater auch, weiß ich das. Und ich weiß genauso, dass ich besser daran täte, keine zu erwarten.
Der Vollständigkeit halber und weil ich ihn nie wieder sah: Mein Vater fuhr zurück nach St. Louis und begab sich wieder unter den Einfluss von Dr. Carter, der meines Erachtens ein ebenso starker Charakter war wie mein Vater ein schwacher. Sie lebten eine Zeit lang weiter dort, bis Dr. Carter seine Praxis ganz aufgab, wie ich hörte. Dann verließen sie Amerika und gingen zunächst nach Paris und danach in ein helles weißes Stuckhaus bei Antibes, das ich tatsächlich einmal zu sehen bekam, allerdings vollkommen zufällig, bei einem Abstecher auf einer Geschäftsreise. In dem Augenblick, als ich davor stand, wusste ich irgendwie, dass dies seine Bleibe gewesen sein musste, als hätte ich es geträumt – konnte dann aber nicht schnell genug wieder fortkommen, obwohl sie beide längst tot und begraben waren.
Eines Tages Anfang der siebziger Jahre entdeckte ich in unserer Zeitung ein Bild auf der Gesellschaftsseite, auf dem mein Vater in einer Gruppe lächelnder, gut aussehender Männer mit Kurzhaarschnitt stand, wieder mal im Frack, mit irgendwelchen albernen roten Schärpen und mit Champagnergläsern in der Hand. Sie waren Männer über fünfzig, die nach ihrem Lächeln zu urteilen alle unbedingt jünger sein wollten.
Als ich dieses Bild sah, fiel mir wieder ein, dass ich an den Tagen, nachdem mein Vater mit mir in den Sümpfen gewesen war und die Dinge kein allzu glückliches Ende genommen hatten, eines der wenigen Male in meinem Leben betete, genauer gesagt, zum letzten Mal. Eine Weile betete ich ziemlich inbrünstig und trotz allem darum, dass er zu uns zurückkehren möge, damit unser Leben wieder so würde, wie es früher gewesen war. Und dann betete ich, er möge sterben, und zwar so, dass ich es nie erfahren würde und die Erinnerung an ihn keine Erinnerung mehr wäre, alles einfach ausradiert. Nicht lange danach starb meine Mutter einen ziemlich plötzlichen, sinnlosen und unglücklichen Tod, und viele Leute, auch ich, gaben ihm die Schuld daran. Im Lauf der Zeit kam mein Vater öfters nach New Orleans, so als wären wir einander nie begegnet.
Die Erinnerung war also nicht ausradiert. Und doch glaube ich, da ich es jetzt erzählen kann, bin ich über sie hinausgekommen, zu einem Leben, das besser wurde, als man es hätte erwarten können. Natürlich sehe ich mein Leben zum Teil als einen Überrest all dessen, was meine Eltern riskiert und vergeudet und übersehen haben. Manchmal drängt sich einem das Bewusstsein von den vielen Querverbindungen im Dasein förmlich auf, aber wahrscheinlich ist das nicht immer so. Wie dem auch sei, man kann es überstehen. Ich bin der Beweis dafür, auch deshalb, weil ich mir seit dieser Zeit mein Leben nie mehr anders vorgestellt habe, als es ist.
WIEDERSEHEN
A
ls ich Mack Bolger sah, stand er unten an der Marmortreppe, die Reisende und Passanten zur Galerie der Haupthalle der Grand Central Station bringt und wieder zurück. Es war letztes Jahr vor Weihnachten, als das Wetter so warm und verwässert daherkam, dass von Adventsstimmung kaum die Rede sein konnte.
Ich nahm eine Abkürzung durch den Bahnhof, wie ich es oft auf dem Heimweg vom Verlagsbüro auf der 41. Straße tue. Genauer gesagt, war ich unterwegs zu Billy’s, um mich dort mit einer neuen Freundin zu treffen. Es war vier Uhr an einem Freitag, und in dem großen Bahnhof wimmelte es von lauter Mitmenschen, die, beladen mit Gepäck und wertvollen Paketen, irgendwohin rannten, Abschiede und Begrüßungen wurden gebrüllt, man winkte, umarmte und packte einander voller Vergnügen. Andere standen allerdings nur herum, wie auch Mack Bolger, der, als ich ihn sah, eher ausdruckslos auf die Massen starrte, als hätte ihn aus irgendeinem Grund einer versetzt. Mack ist ein großer, gut aussehender, kräftig gebauter Mann, der immer ein bisschen über allem zu stehen scheint. Er trug einen langen, wie angegossen passenden Gabardinemantel
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