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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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Lippen mit einer feuchten Fingerspitze, wunderbare Lippen.
    »Angst«, sagte ich. »Angst ist wirklich nicht das richtige Wort, oder?«
    »Na, dann was immer das richtige Wort ist«, Beth guckte schnell weg und winkte dem Kellner wegen der Rechnung. Sie konnte nicht damit umgehen, wenn man nicht ihrer Meinung war. Es erschreckte sie immer.
    Aber das war alles. Wie ich schon sagte, unser Treffen war unbefriedigend.
    Mack Bolgers blassgraue Augen sahen mich schon viel früher auf ihn zukommen, als ich erwartet hatte. Wir waren einander nur zweimal begegnet. Einmal bei der schicken Cocktailparty eines Autors, dem ich ein Buch abringen musste, weshalb ich extra nach St. Louis gekommen war. Bei der Gelegenheit hatte ich Macks Frau kennen gelernt. Und das andere Mal im Mayfair Hotel, als ich albernerweise versucht hatte, ihm einen Schwinger zu verpassen, worauf er mich gegen die Wand geschubst und mir mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen hatte. Vielleicht vergisst man die Leute nicht, denen man eine reinhaut. Das wird dann ihr Platz in deinem Leben. Ich für meinen Teil finde es schwer, Menschen wiederzuerkennen, wenn sie nicht dort sind, wo sie hingehören, und Mack Bolger gehörte nach St. Louis. Natürlich war er eine Ausnahme.
    Macks Blick blieb an mir hängen, glitt weiter, schweifte unbehaglich über die Menge und fand mich wieder, während ich näher kam. Sein großes gebräuntes Gesicht nahm einen Ausdruck steinerner Nichtüberraschung an, als hätte er gewusst, dass ich irgendwo auf dem Bahnhof war, und zwischen uns hätte bereits eine Form der Kommunikation begonnen. Obwohl, wenn überhaupt, sah sein Gesicht eher resigniert aus – mir gegenüber, den Situationen gegenüber, die einem die Welt aufdrängt, sich selbst gegenüber. Resignation war eigentlich das, was wir gemeinsam hatten, auch wenn es keiner von uns hätte benennen können. Und so empfand ich beim Näherkommen unerwartet Mitgefühl für ihn – weil er mich jetzt sehen musste. Und hätte ich gekonnt, ich hätte kehrtgemacht, wäre auf der Stelle fortgegangen und hätte ihn in Ruhe gelassen. Aber ich tat es nicht.
    »Ich habe Sie gerade entdeckt«, sagte ich aus der Menschenmenge heraus, drei Meter eher als geplant. Meine Stimme ist nicht laut, so dass die theatralisch nasale männliche Stimme, die die Ankunft aus Poughkeepsie auf Gleis 34 ankündigte, sie wohl übertönte.
    »Wollten Sie mir etwas Bestimmtes mitteilen?«, fragte Mack Bolger. Seine Augen schossen wieder durch die Gewölbehalle, wo Weihnachtseinkäufer und überladene Passagiere in allen Richtungen durcheinander liefen. In diesem Moment fiel mir – mit Schrecken – ein, dass er bestimmt auf Beth wartete und dass ich gleich ihr und Mack zusammen gegenüberstehen würde, fast wie in St. Louis. Mein Herz schlug zwei abrupte Schläge tief in meiner Brust, dann schien es eine Sekunde lang ganz stehen zu bleiben. »Wie geht es Ihrem Gesicht?«, fragte Mack unbeteiligt, immer noch die Menge absuchend. »Ich hab Sie doch nicht zu schlimm verletzt, oder?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Sie haben sich einen Schnurrbart wachsen lassen.« Seine Augen zuckten nicht zu mir.
    »Ja«, sagte ich, obwohl ich es vollkommen vergessen hatte und mich aus irgendeinem Grund dafür schämte, als sähe ich damit lächerlich aus.
    »Na«, sagte Mack Bolger. »Gut.« Seine Stimme klang so, als spräche er auf der Post in der Schlange zu seinem Nebenmann, einem Menschen, den er nie wieder sehen würde. Aber in seiner Stimme lag auch, kaum merklich, eine Spur von – Saftigkeit , wie man früher dazu sagte, etwas Feuchtes in seinen Backen, geringfügig und hartnäckig, das man seinen S und F anhörte. Schade, es nahm ihm einen Gutteil seiner ernsten Ausstrahlung. Bislang war mir das noch nicht aufgefallen, in den wenigen überhitzten Momenten, als wir miteinander hatten reden müssen.
    Mack sah mich wieder an, die Hände in den teuren italienischen Manteltaschen, der Mantel hatte schwere dunkle Hornknöpfe und lange breite Aufschläge. Zu modisch für ihn, dachte ich, dafür ist er viel zu solide. Mack und ich waren fast gleich groß, aber er war in jeder Hinsicht breiter und schien auf mich herabzuschauen – es hatte irgendwie damit zu tun, wie er das Kinn hochreckte. Fast das Gegenteil von Beths Blick, wenn sie mich ansah.
    »Ich wohne jetzt hier«, sagte Mack, ohne wirklich zu mir zu sprechen. Ich bemerkte, dass er lange dunkle, fast feminine Wimpern hatte und kleine, perfekt geformte Ohren, die sein neuer

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