Eine Vielzahl von Sünden
mir vorbei und gibt Renard eine auf sein Grinsemaul. Doch er tat es nicht. Er sackte wieder auf seiner Obstkiste zusammen, Gesicht nach vorn, frisch geladene Flinte zwischen den Knien. Die weiß-schwarzen Schuhe standen auf seinem Mantel, ruiniert. Die kleine rosa Nelke lag zerdrückt im fettigen Schlamm.
Ich hörte meinen Vater schwer atmen. Irgendetwas war passiert, nichts Gutes, aber ich wusste nicht, was. Irgendetwas war in ihm hochgestiegen, die Kraft eines plötzlichen Aufbegehrens, aber sie war erstickt worden, bevor sie nach außen dringen und sich entfalten konnte. So kam es mir jedenfalls vor. Natürlich gibt es immer einen lautlosen Zwischenschritt zwischen unseren Impulsen und unseren Handlungen. Aber ich wusste nicht, was passiert war, nur dass etwas passiert war, das konnte ich spüren. Mein Vater wirkte jetzt müde und schien nachzudenken. Renard Junior pakte nicht mehr, sondern saß nur an seinem Ende des Erdsitzes und starrte in den dunstigen Himmel, der am Horizont ein dichtes, warmes, leuchtendes Rot bekam, als brennte am äußersten Rand der Sümpfe ein Feuer. Aus den anderen Erdsitzen wurde nicht mehr geschossen. Ein kleines Flugzeug zog langsam über den Himmel. Ich hörte einen Hund bellen. Ich sah einen Fisch, der im Wasser vor dem Unterstand eine Wende machte. Ich glaubte einen Alligator zu sehen. Mücken machten sich bemerkbar, was in Louisiana niemals ungewöhnlich ist.
»Was tust du in St. Louis?«, fragte ich meinen Vater. Das wollte ich nämlich wissen.
»Tja«, sagte mein Vater nachdenklich. Er schniefte. »Golf. Ich spiele ziemlich viel Golf. Francis hat ein großes Haus gegenüber von einem wunderbaren Park. Da habe ich damit angefangen.« Er betastete seine Stirn, wo sich auf einem schwarzen Schlammklecks eine Mücke niedergelassen hatte. Er zerrieb sie und betrachtete seine Fingerspitzen.
»Wirst du dort als Anwalt arbeiten?«
»O Gott, nein«, sagte er, schüttelte den Kopf und schniefte wieder. »Ich wurde doch hier ersucht, die Firma zu verlassen, wie du weißt.«
»Ja«, sagte ich. Er atmete jetzt leichter. Sein Gesicht wirkte ruhig. Er sah anziehend und jugendlich aus. Welches lautlose Ereignis auch immer stattgefunden hatte, es war an ihm abgeglitten, und er wirkte wieder gefasst. Ich dachte, vielleicht könnte ich darüber sprechen, dass ich nach Lawrenceville wollte. Solche Gespräche führte man doch bei der Entenjagd im Erdsitz. Obwohl es unter vier Augen sicher besser gewesen wäre, ohne Renard Junior, der mithörte. »Ich wollte dich etwas fragen …«, setzte ich an.
»Erzähl mir von der Lage an der Mädchenfront«, unterbrach mich mein Vater. »Da will ich alles wissen.«
Ich wusste, was er meinte, aber da gab es nichts zu erzählen. Ich ging auf die Militärschule, und da gab es nur andere Jungen, das war mir nichts. In Lawrenceville würde es eher etwas zu erzählen geben. Da waren Mädchen in der Nähe. »Es gibt nichts zu erzählen …«, fing ich an, und er unterbrach mich wieder.
»Ich will dir einen Rat geben.« Er rieb mit dem Zeigefinger vorn an den Läufen seiner italienischen Flinte herum. »Versuch dir immer vorzustellen, wie du dich fühlen wirst, nachdem du jemand gebumst hast , bevor du jemand bumst. Comprendes? Das ist der Schlüssel zu allem. Geschichte. Moral. Philosophie. Damit wirst du dir eine Menge Elend ersparen.« Er nickte, als wäre ihm diese Weisheit gerade eben noch mal so richtig klar geworden. »Vielleicht weißt du das ja schon«, sagte er. Er schaute über die vordere Wand des Erdsitzes hinweg, wo der Himmel in Flammen stand, dann zu mir, und dieser Blick sollte ehrlich wirken und mir wohl sagen, dass er mich mochte. »Kommt es manchmal vor, dass du im Gespräch Dinge sagst, die du absolut nicht glaubst?« Er streckte zwei Finger aus und zupfte mir eine Mücke von der Wange. »Sag mal«, sagte er abwesend, »sag schon, sag mal.«
Ich dachte an Gespräche, die ich mit Dubinion geführt hatte, und an einige mit meiner Mutter. Das waren solche Gespräche – erinnernswert nur wegen der Dinge, die ich nicht gesagt hatte. Zu meinem Vater aber sagte ich: »Nein.«
»Dann achtest du wohl nicht besonders darauf, was opportun ist«, sagte er freundlich.
»Weiß ich nicht«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was opportun bedeutete. Es war ein Wort, das ich noch nie hatte gebrauchen müssen.
»Nun, ich achte sehr darauf, was opportun ist. Zu sehr, glaube ich«, sagte mein Vater. Ich dachte natürlich daran, was meine Mutter von ihm
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