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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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woran sie sich über zwanzig Jahre lang gewöhnt hatte; suchte nach Anzeichen dafür, ob er wirklich so gutwillig oder sogar so groß und langgliedrig war, wie sie aus Gewohnheit annahm. Ob er wirklich eine Veranlagung zum Handwerker und ein freundliches Wesen hatte oder bloß ein Idiot oder Sack war, den sie unklugerweise geheiratet und an den sie sich dann gewöhnt hatte. Sie überlegte, ob sie eine Affäre anfangen sollte – mit einem Kollegen oder einem Botenjungen. Aber das kam ihr zu mechanisch vor, zu aufwändig, und das Resultat war so vorhersehbar. Toms Strafe musste darin bestehen, dass sie über eine Affäre nachdachte und ihre Freiheit zeigte, ohne es ihm zu sagen. In einer Zeitschrift, die sie beim Zahnarzt mitnahm, las sie, die meisten Frauen würden ihre Meinung über ihre Ehemänner radikal ändern, sobald sie mal einige Zeit ohne sie verbrächten. Nur dass Frauen ja von Natur aus versöhnlich und bereit zum Verzeihen seien und sich deshalb lieber nicht trennen wollten. Sie fänden es sogar leicht, ja wünschenswert, sich bei vielen Dingen etwas vorzumachen, vor allem bei Männern. Der Autor – ein Psychologe – hielt Frauen für hoffnungslos.
    Doch nach jeder Neubewertung stellte sie wieder fest, dass Tom Marshall all das war , was sie immer in ihm gesehen hatte, und dass ihre Gründe, ihn zu lieben, immer noch galten. Tom war gut; von ihm getrennt zu sein war nicht gut, auch wenn er mit dem Alleinsein gut zurechtzukommen, ja förmlich aufzublühen schien. Sie musste einfach versuchen, das Beste draus zu machen. Denn eine Sache war ihr klar, und Tom vermutlich auch: Sie befanden sich in einer merkwürdigen Situation miteinander, auf ungewissem emotionalem Terrain, und dadurch konnte es passieren, dass sie als Menschen insgesamt auf dem Prüfstand landeten, dass ganz neue Seiten an ihnen zum Vorschein kamen und zu bewerten waren.
    Diese Sachlage war vollkommen anders als das, womit sie es jeden Tag im Büro aufnehmen musste und was Tom als Polizist erlebt hatte – die klischeehaften, übermäßig dramatischen und nicht mehr zu reparierenden Probleme, die schnell außer Kontrolle gerieten, so dass sich die Leute vor Gericht wiederfanden oder in den groben Händen des Gesetzes, als letzte Rettung bei der Lösung ihrer Lebensprobleme. Wenn die Leute nur nicht alles so dramatisierten, wenn sie flexibel blieben, selbstständig dächten und sich am Riemen rissen, dann ließe sich alles viel leichter klären, davon war Nancy überzeugt. So schwer das manchen Leuten auch fallen mochte.
    Sie war selbst ziemlich beeindruckt davon, wie sie mit Toms Geständnis umgegangen war, dass er mit Crystal d’Amato (so lautete ihr richtiger Name) gevögelt hatte. Kaum war klargestellt, dass er die Affäre nicht fortsetzen wollte, war es ihr auch schon besser gegangen. Ihr fiel zum Beispiel auf, dass es sie keineswegs fertig gemacht hatte, sich Tom mit blankem Arsch auf Crystal vorzustellen, wo immer sie es getrieben hatten (sie sah ein großes weißes, farbfleckiges Stück Leinwand vor sich). Auch den Gedanken an den Betrug an sich fand sie nicht besonders wichtig. Eigentlich war es gar kein richtiger Betrug; Tom war ein guter Mann; sie war erwachsen; Betrug musste etwas Schlimmeres sein, dazu war es doch gar nicht gekommen. Wenn sie Tom jetzt mit ihrem gütigen, forschenden Blick betrachtete, gehörte in gewisser Weise das Vögeln mit Crystal zu seinen leichter erklärlichen neuen Seiten.
    Und doch ging ihr auf, während es Frühling wurde und Tom in den Larchmere Apartments blieb – seine jämmerlichen Mahlzeiten kochte, auf seinem winzigen Apparat fernsah, seine Wäsche im Keller wusch, in seine Werkstatt ging –, dass das gesamte Gebäude ihres gemeinsamen Lebens immer deutlicher wurde, immer kleiner nämlich. Wie ein wertvolles Päckchen, das von Bord eines Ozeandampfers gefallen war und in seinem weich rauschenden Kielwasser unterging. Möglicherweise war das eine Krise. Möglicherweise liebten sie sich genug. Doch die stärkste Macht, die sie zusammenhielt, war nicht diese Liebe, dachte sie, sondern das beiderseitige Bedürfnis herauszufinden, in was für einer Situation sie eigentlich steckten, eine Neugier auf das Neue, Unbekannte daran.
    Je länger Tom allerdings fortblieb, allem Anschein nach gut gelaunt und gut eingewöhnt, desto stärker wurde ein Gefühl des Abebbens bei ihr, als liefe etwas aus ihr heraus wie Wasser aus einem leckenden Becher, bis der ursprüngliche leere Zustand wieder erreicht war.

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