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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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ganze Land seinen Ausgang genommen hatte und dass das Meer eine »Urerfahrung« darstellte, anders als der Lake Michigan, in dessen Nähe er aufgewachsen war und der nicht das Geringste mit einer Urerfahrung zu tun hatte.
    »Ich dachte, das heißt es, ja«, sagte Tom.
    »Und was bedeutet Maine?«, fragte sie. Im Schnäppchenblatt stand überhaupt nichts Aufschlussreiches.
    »Das weiß ich aber«, sagte Tom und sah dem wendenden Schleppkahn zu, der nun stromabwärts fuhr. »Es steht für Festland, mainland . Im Unterschied zu den Inseln.«
    Sie sah sich im überfüllten Diner nach ihrer Kellnerin um. Sie war bereit für fettigen Bacon und Buttertoast und hatte das Schnäppchenblatt hinter den Serviettenspender geklemmt. »Die haben hier eine hohe Meinung von sich«, stellte sie fest. »Sie bewundern Tugenden, die man nur versteht, wenn man Schwierigkeiten und Chaos trotzen muss. Das ist wohl der typische Geist von Neu-England, nehme ich an.« Toms Tugenden waren natürlich genau so, perfekt, wenn einer gerade starb oder ausgeraubt oder betrogen wurde – die Charakterzüge eines Polizisten, nützlich in vielerlei Hinsicht, nicht nur bei der Polizei. »Ist Maine nicht der Staat, wo eine Frau von einem Jäger erschossen wurde, als sie Wäsche aufhängte? Weil sie weiße Handschuhe anhatte oder so, und der Jäger hielt sie für ein Reh? Das brauchst du natürlich nicht zu verteidigen.«
    Er wandte ihr sein Polizisten-Standardpokerface zu. Wenn sein Gesicht diesen Ausdruck annahm, geriet seine normale Miene – offen und begeisterungsfähig – in Vergessenheit. Er nahm Ungerechtigkeiten persönlich.
    Sie blinzelte, wartete, dass er etwas anderes sagte.
    »Orte, die nichts Merkwürdiges an sich haben, sind meistens langweilig«, verkündete er feierlich.
    »Ist ja erst mein erster Morgen hier.« Sie lächelte ihn an.
    »Ich möchte gern, dass wir uns dieses Belfast anschauen.« Er suchte wieder auf der Landkarte. »Was sie hier darüber schreiben, klingt interessant.«
    »Belfast. Wie die Stadt, wo immer gekämpft wird?«
    »Ja, aber die hier liegt in Maine.«
    »Bestimmt ist sie ganz toll.«
    »Du kennst mich ja«, sagte er und erwiderte plötzlich ihr Lächeln. »Immer optimistisch.« Da war der Enthusiast wieder. Er wollte aus ihrer Reise etwas machen. Und er hatte vollkommen Recht: Es war zu früh für grundlegende Meinungsverschiedenheiten. Das konnte später kommen.
    Letztes Jahr, zu Anfang des Winters, war Tom aus ihrem Haus in eine eigene Wohnung gezogen, ein abweisendes kleines Ensemble aus weißen trockengemauerten Rechtecken, die zu einem neuen Komplex gehörten, an einem breiten Boulevard gegenüber einem Einkaufszentrum mit Factory-Outlets und neben dem Parkplatz einer großen Tierklinik, wo man Tag und Nacht die Hunde bellen und jaulen hörte.
    Toms Auszug ging bewusst undramatisch vonstatten. Er selbst hatte zögerlich gewirkt, und sobald er weg war, fehlte er ihr – ihn zu sehen, neben ihm zu schlafen, ihn zum Reden um sich zu haben. Manchmal kam sie aus dem Büro nach Hause, und Tom war in der Küche, trank ein Bier oder schaute CNN , während er etwas in der Mikrowelle warm machte – als wäre es vollkommen in Ordnung, woanders zu wohnen und dann wie eine Erinnerung aufzutauchen. Manchmal fand sie die Badezimmertür verschlossen vor, oder er kam gerade aus dem Keller nach oben oder stand im hinteren Garten und starrte die Hortensien an, als überlegte er, sie auszureißen.
    »Ach, du bist da«, sagte sie dann. »Jau«, antwortete er, und es klang, als wüsste er nicht genau, wie es dazu gekommen war. »Ich bin’s.« Manchmal setzte er sich in die Küche und erzählte, was er gerade in seiner Werkstatt machte. Manchmal brachte er ihr ein neues Spielzeug mit, das er gebaut hatte – einen bunten Kometen auf einem kleinen Ständer oder einen neuen Wagner in grelleren Farben. Sie redeten über Anthony, in Goucher. Meistens, wenn er kam, fragte Nancy, ob er zum Essen bleiben wolle. Und Tom schlug dann vor, dass sie ausgingen, er würde ihr »einen ausgeben«. Aber das wollte sie eigentlich gar nicht. Sie wollte, dass er blieb. Sie vermisste ihn im Bett. Sie hatten eigentlich nie darüber gesprochen, sich zu trennen. Er handelte aus eigenen Beweggründen. Als er auszog, erschien das fast wie etwas Natürliches.
    Aber jedes Mal, wenn er da war, versuchte sie, Tom Marshall mit neuen Augen zu sehen, als wäre er ein Fremder; versuchte von neuem festzustellen, ob er wirklich so gut aussah oder anders als das,

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