Eine Vielzahl von Sünden
Das sah, zugegeben, nicht gerade gut aus. Aber vielleicht war das nur der natürliche Gang der Dinge. Sie fühlte sich isoliert, das schon, aber irgendwie auf großartige Art und Weise, als wäre es eine besondere Leistung, allein zu sein und klarzukommen. Uneinnehmbar und stark fühlte sie sich – nicht dass sie jemand hätte einnehmen wollen; aber das änderte nichts an der Frage: Was für eine Stärke war das, und was zum Teufel sollte man allein damit anfangen?
»Wo liegt Nova Scotia?«, fragte Nancy und starrte aufs Meer. Seit sie Rockland vor einer Stunde über die Route 1 verlassen hatten, taten sich die ersten Blicke auf den Ozean auf, dessen Oberfläche ruhig, intensiv, fast unaufdringlich blau dalag und große konturierte bewaldete Inseln umgab. Wie Tom erklärte, waren diese nur mit der Fähre zu erreichen und stellten die Festungen der Reichen dar, die nur im Sommer herkamen und keine Heizung im Haus hatten.
»Das ist ein Paralleluniversum da draußen«, sagte er, um klar zu machen, dass er ein solches Leben nicht billigen konnte. Tom fühlte sich eher zu einem Lebensstil hingezogen, den er als authentisch betrachtete. Mit dieser Haltung entsprach er ausnahmsweise dem typischen konventionellen Cop. Er rechnete es den Mainern hoch an, dass sie ihre Häuser am Meer für zwei Sommermonate vermieteten und fantastische Summen dafür kassierten, von denen sie ihre Jahresrechnungen bezahlten. Das fand Tom authentisch.
Jetzt hatte sie Nova Scotia im Kopf, weil es wirklich exotisch wäre, dorthin zu fahren, weit jenseits der grünen, sauber abgezirkelten Inseln. Obwohl sie gar nicht genau sagen konnte, in welcher Himmelsrichtung sie gerade aus dem Autofenster schaute. Wenn man an der Ostküste war und aufs Meer schaute, sollte die Blickrichtung doch eigentlich auch Osten sein. Sie hatte aber das Gefühl, in Maine gälte diese Regel nicht, schließlich waren die Entfernungen weiter, als sie auf der Karte aussahen, alles hier erschien so abgelegen, und außerdem waren sie »unten im Osten«, was immer das heißen sollte. Vielleicht schaute sie ja nach Süden.
»Du kannst es nicht sehen. Es liegt ganz weit da draußen«, sagte Tom, bezogen auf Nova Scotia. Beim Fahren warf er schnelle Seitenblicke aufs Wasser. Sie waren durch Camden gefahren, das vor lauter durch die Sonne bummelnden, in dieselben teuren Outlet-Läden wie in Freeport pilgernden Touristen in hellen teuren Kleidern fast erstickte. Nancy und Tom hatten gedacht, nach Labor Day wären keine Touristen mehr unterwegs, aber dagegen sprach schon ihre eigene Anwesenheit.
»Ich hab so den Eindruck, da würden wir uns wohler fühlen«, sagte sie. »Kanada ist nicht so überlaufen.«
Ein großer bewaldeter Landkeil lag massiv hinter einem breiten Kanal aus blauem Wasser, den Tom zur Penobscot Bay erklärt hatte. Der Keil sei Islesboro, auch eine Insel, sagte er, und auch hier lebten im Sommer reiche Leute ohne Heizung. John Travolta habe seinen eigenen Flugplatz da. Sie betrachtete sinnierend die lange abwechslungslose Inselküste. Komische Vorstellung, dass John Travolta gerade dort war. Was machte er wohl? Es war nett, sich das als Nova Scotia zu denken, so als stünde man auf einer Wiese und beobachtete, wie die Konturen der Wolken Berge imitierten, bis man das Gefühl hatte, tatsächlich in den Bergen zu sein. Maine, hatte ein Anwalt aus ihrem Büro gesagt, habe eine wunderschöne Küste, aber ansonsten sei es wie Michigan.
»Nova Scotia liegt zweihundertdreißig Meilen weit weg, auf der anderen Seite der Bay of Fundy«, sagte Tom, munter aus einem neuen Grund.
»Ich habe auf der High School mal einen Aufsatz darüber geschrieben«, sagte Nancy. »Sie sprechen immer noch Französisch, vieles ist sehr rückständig, und sie haben für Amerikaner nicht viel übrig.«
»Wie in Kanada überhaupt«, sagte Tom.
Route 1 folgte der Küste mit ihren hohen baumbestandenen Hügeln, zwischen denen sich gelegentlich weite, atemberaubende Blicke auf die darunter liegende Bucht auftaten. Ein paar weiße Segel waren auf der reinen blauen Oberfläche zu sehen, obwohl an diesem Spätvormittag wenig Wind herrschte.
»Wär nicht schlecht, hier oben zu leben«, sagte Tom. Er hatte sich nicht rasiert und rieb sich mit der Handfläche über die dunklen Stoppeln. Mit jeder Minute wirkte er glücklicher.
Sie betrachtete ihn neugierig. »Wo?«
»Hier.«
»In Maine leben? Aber hier ist es doch sterbenskalt, außer heute.« Sie und Tom waren in den Suburbs von Chicago
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