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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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Fluss, über den eine niedrige Betonbrücke den Verkehr zügig nach Norden und Süden beförderte. Das Schild mit Goldrand bei der Ortseinfahrt nannte Wiscasset DAS SCHÖNSTE DORF VON MAINE , wohl weil es wenige große, weiße, teuer aussehende Häuser gab, mit manikürten Rasenflächen und einer Plakette am Haupteingang, die aller Welt mitteilte, wann das Haus gebaut worden war. Am gegenüberliegenden Ufer des Flusses, der Sheepscot hieß, lagen weiße Sommerhäuschen verstreut in der Uferbewaldung. Das war Maine – klein im Maßstab, aber überaus pittoresk, ärgerlich abgelegen, exklusiv und dicht besiedelt. Sie wusste, sie waren nicht weit vom Meer, aber sie hatte es noch nicht gesehen, nicht einmal gestern Abend vom Flugzeug aus. Der Sheepscot war eindeutig ein Fjord; Möwen flogen landeinwärts durch die klare Morgenluft, es gab hübsche kleine Hummerkutter, ein paar ankernde Segelboote.
    Nachdem sie geparkt hatten, wanderten sie hügelabwärts Richtung Diner, und Tom blieb ein paarmal vor Schaufenstern voller ZU VERKAUFEN -Fotos stehen, Farbfotos von lauter kleinen weißen Häusern mit leuchtenden grünen Dächern, nur »Minuten« entfernt von irgendeiner Wasserfläche, die unscharf im Hintergrund zu sehen war. Alle Örtlichkeiten trugen Namen, die typisch für Maine waren. Pemaquid Point. Passamaquoddy irgendwas. Stickney Corner. Die Gebäude sahen aus wie die Ferienhäuschen auf der anderen Seite des Flusses – man war sie nach einer Saison leid und musste sie dann wieder auf den Markt bringen. Sie konnte nicht einschätzen, ob die Preise teuer waren oder nicht, Tom fand sie zu hoch. Egal. Sie wohnte ja nicht hier.
    Nach dem zweiten oder dritten Makler richtete sich Tom auf und starrte den Fluss hinter dem Diner an. Das Wasser glitzerte in der leichten Septemberluft. Er wirkte sehnsüchtig, aber auch nachdenklich. Die nach Salz riechende Brise blies sein Haar gegen den Scheitel und offenbarte, wo es schütter wurde.
    »Denkst du über ein Objekt ›nur wenige Schritte vom Meer entfernt‹ nach?«, fragte sie, um etwas Passendes zu sagen, und hakte sich bei ihm unter. Tom war ein Enthusiast, und wenn ein Thema, für das er sich gerade begeistern wollte, ihn dann doch überforderte, wurde er leicht düster, als wäre die Welt ein hoffnungsloser Ort.
    »Ich dachte nur gerade, dass in dieser Stadt schon alles entdeckt worden ist«, sagte er. »Vor zwanzig Jahren hätte man hier sein sollen.«
    »Möchtest du etwa in Wiscasset oder Pissamaquoddy wohnen, oder wie die alle heißen?« Sie schaute die abschüssige Hauptstraße hinunter – ein Block Antiquitätenläden mit Glasfronten, ein schicker Deli, ein edler Möbelladen, über dem sich Anwaltskanzleien und Steuerberaterpraxen befanden. Auch hier hingen Plaketten mit dem Baujahr. Achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Gar nicht mal so alt. In Harlingen gab es eine Menge Gebäude, die älter waren.
    »Hätte ich nur vor so langer Zeit daran gedacht«, sagte Tom. Er trug sandfarbene Shorts, Wollsocken, ein rotes Leinenhemd von Bean’s und Laufschuhe. Sie trugen fast dasselbe, sie hatte allerdings noch einen blauen Anorak drüber und Khakihosen an. Tom sah aus wie ein Tourist, kein Excop, und darum ging es wahrscheinlich auch, dachte sie. Tom mochte die Vorstellung, sich zu verwandeln.
    »Ein Urlaub ist nicht dazu da, Dinge zu bereuen oder auch nur ständig über sie nachzudenken.« Sie zog ihn am Arm. Sie war sie selbst um seinetwillen, das spürte sie. Die Straße, die durch die Stadt führte – Route 1 –, füllte sich langsam, der Verkehr von der Brücke wurde langsamer und kam nur noch kriechend voran. »Beim Urlaub geht es darum, seine Stimmung mit dem Wind aufsteigen zu lassen und sich ungebunden und frei zu fühlen.«
    Tom betrachtete sie, als sei plötzlich sie der Gegenstand seiner Sehnsucht. »Genau«, sagte er. »Du wärst bestimmt eine tolle Ehefrau für jemanden.« Er schaute verblüfft drein, dass er das gesagt hatte, und setzte sich in Bewegung, als wäre es ihm peinlich.
    »Ich bin schon die Ehefrau von jemandem«, sagte sie und schloss auf, versuchte, es als Scherz zu nehmen, denn er hatte ja etwas Nettes sagen wollen und keinen Schaden angerichtet. Das, was zwischen ihnen nicht stimmte, führte immer wieder zu unerwarteten Anspielungen darauf, ohne das Problem selbst deutlicher zu machen. Sie liebten sich. Sie kannten sich sehr gut. Sie waren Eheleute voll guten Willens. Letztendlich ließ sich doch alles verzeihen – ein

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