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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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Versprecher, ein verpatzter Versuch zum Liebesakt, ein Gespräch, das nirgendwohin oder an den falschen Ort führte. Die Frage lautete: Worauf liefen all diese Reserven von Zärtlichkeit und Herzlichkeit hinaus? Und worauf nicht? Während sie hügelabwärts hinter ihrem Mann herlief, spürte sie die eigenartige Wucht der Tatsache, dass man nur ein Leben hatte. In diesen drei Tagen, begriff sie, musste sich klären, ob irgendetwas, das über dieses Minimum hinausging, einen Sinn hatte. Das war ein wichtiges Rätsel.
    Im Miss Wiscasset Diner konsultierte Nancy das Schnäppchenblatt der Gegend, den Down-East Pennysaver , wie es sich nannte. Auf der hinteren Umschlagseite gab es Kontaktanzeigen. M sucht F. F sucht M . Nichts anderes schien erlaubt zu sein. Kein M sucht M . Tom studierte die Karte, die sie im Bed-and-Breakfast mitgenommen hatten, auf der eine Reihe nützlicher »Informationen über Maine« aufgelistet stand; alles gab Anlass zu unkomischen Variationen des Namens Maine: von den wichtigsten Ereignissen (Main Events) über Wahnsinns-Sonderangebote (Maniac Markdowns) bis hin zum Dachdecker (Roof Maintenance) , überall hatte einer den Gleichklang mit dem Namen des Staates »entdeckt«. Die kamen wohl alle nicht drüber weg, wie hübsch er klang.
    Auf dem Fluss schob ein schwarzer Eisenkahn einen Schwimmbagger stromaufwärts. Der Bagger transportierte einen großen Baggereimer, der an einem Kabel am Ende eines ausgefahrenen Krans hing. Das ganze Unterfangen war so riesig, dass es schon wieder lächerlich aussah.
    »Was meinst du, wofür das wohl ist?«, fragte Nancy. Die Morgengäste lärmten im Diner, der intensiv nach fettem Bacon und Buttertoast roch.
    Tom sah von seiner Landkarte hoch und auf den Bagger. Der würde nicht unter der Brücke durchkommen, wo Route 1 den Fluss kreuzte, er war zu hoch. Er schaute sie an und lächelte, als hätte sie nichts gesagt, dann wandte er sich wieder seinen »Informationen über Maine« zu.
    »Falls es dich interessiert, all die Frauen, die Männer suchen, sind entweder ›üppige Mädels über fünfzig‹«, sagte sie und vergaß ihre Frage, »oder Sechzehnjährige, die reife ›Vaterfiguren‹ suchen. Offenbar kriegen in Maine dieselben Männer alle Frauen ab.«
    Tom trank einen Schluck Kaffee und runzelte die Stirn. Sie hatten Zeit bis Sonntag, dann ging ihr Rückflug ab Bangor. Sie wussten nichts von Maine, zogen aber eine Fahrt nach Bar Harbor und Mount Katahdin in Erwägung, weil sie gehört hatten, dort solle es hübsch sein. Nancy hatte vorgeschlagen, den Nationalpark zu besuchen, sich mit einer Wanderung etwas auf Trab zu bringen und dann vielleicht im spätsommerlichen Ozean zu schwimmen, es sei denn, er war allzu kalt. Sie hatten gedacht, das Laub wäre schon bunt, aber so weit war es noch nicht, weil es zu viel geregnet hatte.
    Außerdem konnten sie die Entfernungen schlecht einschätzen. Die Landkarte war kompliziert, schnörkelige Halbinseln bogen sich zurück nach Süden, und die Straße führte hinauf und außenrum und wieder hinunter. Die morgendliche Fahrt von Freeport war ihnen lang erschienen, aber besonders weit waren sie gar nicht gekommen. Da fühlte man sich richtig fremd im eigenen Land. Andererseits hatten sie sich im Auto immer wohl gefühlt – schon damals, als Tom Drummer in einer College-Rockband war und sie zu Auftritten außerhalb mitgefahren war, was Übernachtungen im Auto und in Zehn-Dollar-Motels mit sich brachte. Im Auto wurde das, was sie wirklich waren, für den anderen zugänglich. Sie öffneten sich. Sie fühlten sich frei.
    »Da gibt es eine Stadt namens Belfast«, sagte Tom, wieder in die Landkarte vertieft. »Nicht besonders weit oben. Glaub ich jedenfalls nicht.« Er warf noch einen Blick auf den Schwimmbagger, der langsam im Fluss wendete und sich auf den Rückweg zum Meer machte. »Hast du dieses Ding gesehen?«
    »Ich kapiere nicht, was down-east bedeutet. ›Unten im Osten‹?«, sagte Nancy. Alles, was in dem Schnäppchenblatt kein Wortspiel mit »Maine« war, hatte irgendwie »unten im Osten« drin. Die Kontaktbörse hieß »Unten im Osten sucht«. »Heißt das, wenn du auf einer der Halbinseln so weit nach Süden fährst, wie es nur geht, kommst du nach Osten?«
    Das hätte Tom eigentlich wissen sollen. Schließlich war es seine Idee gewesen, hierher zu kommen statt an ihren gewohnten Küstenort am Ostufer der Chesapeake Bay. Maine hatte ihm ganz plötzlich »eingeleuchtet« – eine nebulöse Erkenntnis, dass hier das

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