Eine Vielzahl von Sünden
aufgewachsen – sie in Glen Ellyn, Tom in einer weniger teuren Ecke von Evanston. Ihre allererste Übereinstimmung hatte daraus bestanden, dass sie die Kälte hassten. Für Toms Polizeidienst hatten sie sich Maryland ausgesucht, weil es kompromisslos mild dort war. Ihre Haltung dazu hatte sich nicht geändert. »Wo willst du denn hinfahren in den zwei Monaten, wenn du das Haus an die Cousins von Kennedy vermietest, nur damit du dir leisten kannst, dich den ganzen Winter hier totzufrieren?«
»Ich würde ein Boot kaufen. Herumsegeln.« Tom streckte seine einladenden Arme aus, umfasste das Steuerrad und ließ die Muskeln spielen. Er war in erschreckend guter Form, kerngesund. Er spielte Basketball mit schwarzen Kids, fuhr mit dem Mountainbike in seine Werkstatt und machte in seiner Wohnung jeden Abend Liegestütze, bevor er allein in sein Bett stieg. Seit er ausgezogen war, wirkte er gesünder, ruhiger, optimistischer, obwohl die offizielle Version lautete, er wäre eine Meile weit weg in eine beschissene Wohnung gezogen, damit es ihr besser ginge. Nancy schaute missbilligend auf die Stecknadelsegel, die, von blauem Wasser umgeben, vor der grünbemützten Insel lagen, wo Sommergäste auf langen weißen Veranden saßen und die verarmte Welt durch teure Teleskope beobachteten. Besonders anziehend war diese Welt nicht. Im letzten Monat hatte Nancy als Pflichtverteidigerin einen Mörder vertreten, zwei hübsche Teenagerschwestern, die angeklagt waren, ihren Bruder sodomisiert zu haben, eine nette Sekretärin, die wegen ihrer Fettleibigkeit in ihrem Büro voller schwuler Männer zum Objekt des Spotts geworden war, und eine ältere japanische Frau, die in ihrem Haus sechsundneunzig Katzen durchfütterte und von ihren Nachbarn als gestört und als gesundheitliche Gefährdung betrachtet wurde, nicht ganz zu Unrecht. Die dicke Sekretärin, die von den Philippinen stammte, hatte eines Tages einen der schwulen Männer erstochen. Wie konnte sie all das aufgeben, um mit einem Mann nach Maine zu ziehen, der allem Anschein nach nicht mit ihr zusammenleben wollte, und dann in den zwei Monaten, die es nicht schneite, auf einem Segelboot festzusitzen? Merkwürdige Zeiten voller interessanter Optionen.
»Vielleicht kannst du ja Anthony dazu überreden, das mit dir zu machen«, sagte sie und stellte sich in aller Ruhe noch einmal vor, dass Islesboro Nova Scotia wäre, wo alle – auf Französisch – schlecht von den Amerikanern sprächen. Beinahe hätte sie gesagt: »Vielleicht kannst du ja Crystal davon überzeugen, hochzukommen und mit dir auf deiner Jacht zu ficken.« Aber das entsprach gar nicht ihrem Gefühl, ein völlig harmloses Gespräch mit etwas Fiesem, das man nicht mal so meinte, zu vergiften – die Leute, die sie verteidigte, taten so was und machten sich damit das Leben schwer. Sie war sich nicht einmal sicher, dass er gehört hatte, wie sie Anthony erwähnte. Womöglich hatte sie nur geflüstert.
»Bleib einfach offen«, sagte Tom und lächelte ein ermutigendes Lächeln.
»Das kann ich nicht«, sagte Nancy. »Ich bin Anwältin. Ich bin fünfundvierzig. Ich bin davon überzeugt, dass die Reichen sich überall schon das Beste geschnappt haben, bevor ich auf die Welt kam, nicht erst vor zwanzig Jahren in Wiscasset.«
»Du bist tough«, sagte Tom, »aber lass dich doch von mir dafür gewinnen.«
»Ich hab’s dir doch gesagt, das hast du schon geschafft«, sagte sie. »Ich bin deine Frau. Das bedeutet es doch, tat es früher jedenfalls: Du gewinnst.«
Das war natürlich Toms Grundhaltung, die lebenslange Weltsicht des Räuberfängers Schrägstrich Enthusiasten: Irgendwer musste immer für eine bessere Haltung gewonnen werden; jemand, der geistig entscheidend tiefer oder höher stand als jemand anders; jemand, der ständig die Rolle des zu Läuternden spielte. Aber sie musste nicht geläutert werden. Er hatte schließlich mit Crystal gevögelt. Er hatte seine Sachen gepackt und war ausgezogen. Das machte sie noch lange nicht zum Gegenteil einer Enthusiastin. Andererseits wurde Tom Marshall dadurch auch noch nicht zu einem bösen Menschen, der bestraft werden musste. Sie hatten einfach keinen gemeinsamen Standpunkt – seiner bestand daraus, den Verlust sentimental aufzuladen, indem er sich selbst bemitleidete; und ihrer daraus, Extreme zu meiden, auch wenn das darauf hinauslief, das Offensichtliche zu ignorieren. Sie fragte sich, ob er sie überhaupt hatte sagen hören, dass er gewonnen hätte. Er dachte gerade an
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